Die Kenia-Koalition – besser als ihr Ruf?
Vor fünf Jahren ist die erste sächsische Kenia-Koalition mit großen Zielen gestartet. Doch hat sie alles erreicht? Was ist auf der Strecke geblieben? Die LVZ zieht Bilanz.
Das erste Gruppenfoto war voller Euphorie. Doch schon damals, im Dezember 2019, war davon die Rede, dass Sachsens erste Regierung aus CDU, Grünen und SPD keine Liebesheirat sei. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagte damals: „Ein Koalitionsvertrag muss sich daran messen lassen, ob er gut ist für unser Land. Und ich kann Ihnen voller Überzeugung sagen: Dieser Koalitionsvertrag ist gut für Sachsen.“ Die LVZ hat sich die 134 Seiten genau angeschaut und geprüft, was aus den Ankündigungen geworden ist.
Schule und Kitas
Ohne Zweifel: Der Lehrermangel und der Unterrichtsausfall haben sich seit 2019 ausgewachsen, die Lücken im Stundenplan inzwischen Negativrekorde erreicht. Dabei hat auch nichts geholfen, dass es seither stets mehr Neueinstellungen – inklusive Seiteneinsteigern – als Altersabgänge gab. Damit liegt der Freistaat mit 759 Lehrkräften im Plus und erreicht insgesamt einen neuen Personal-Höchststand.
Daneben wurden zwei Versprechen aus dem Koalitionsvertrag großteils eingelöst. Zum einen gibt es nun 922 Schulassistenten und damit 769 mehr als 2019, doch diese müssten im Haushalt auch fest verankert werden. Zum anderen wurde mehr Geld für Schulsozialarbeit reserviert. Das Problem ist allerdings: Sozialarbeit gibt es dennoch lediglich an rund 600 der 1400 Schulen. Im Mittelpunkt stehen weiterhin die Oberschulen – so will es der Freistaat in seiner Förderrichtlinie.
Pluspunkte sammelt der Freistaat beim Schul- und Kita-Bau: Hier wurde die Investitionssumme von ehemals 57 Millionen Euro auf aktuell 197 Millionen Euro im Jahr erhöht. Dagegen wird bei der Digitalisierung das Ziel weit verfehlt: Das Versprechen, dass bis Ende 2024 an jeder Schule eine Übertragungsrate von einem Gigabit pro Sekunde anliegt, erfüllen lediglich 49 Prozent. Das Ziel lautet aktuell: bis Ende 2025. Eine weitere Ankündigung blieb – nicht zuletzt aufgrund des Lehrermangels – auf der Strecke: Die Klassenleiterstunde gibt es bis heute nicht. Mit dem Einrichten von Gemeinschaftsschulen wurde dagegen begonnen, gegenwärtig gibt es zwölf.
Der Koalitionsvertrag sah auch Verbesserungen in den Kitas vor. Wohlweislich wurde von einer langfristigen Senkung des Personalschlüssels gesprochen, also wie viele Kinder pro Erzieherin oder Erzieher betreut werden müssen. Tatsächlich hat sich in dieser Beziehung ein wenig getan – allerdings nicht viel. Die Landesregierung hat 2023 zwar den Landeszuschuss auf 3455 Euro pro Kind und Jahr erhöht. Weil aber die Zahl der Kinder sinkt, gehen diese Überweisungen insgesamt zurück. Damit stehen die Kita-Träger vor großen finanziellen Problemen.
Gesundheit und Soziales
Der Gesundheits- und Sozialbereich war zwischen 2020 und 2022 von der Coronapandemie geprägt gewesen: Erinnert sei an dieser Stelle beispielsweise an allein 35 Schutzverordnungen. Im Zentrum – auch der Kritik – stand häufig die zuständige Ministerin Petra Köpping (SPD), die in diesen Zeiten häufig sozusagen das „Gesicht der Pandemie“ im Freistaat gewesen ist.
Aus dem Koalitionsvertrag wurde, so hat die Prüfung ergeben, dennoch reichlich abgearbeitet. So ist beispielsweise die Landarztquote eingeführt worden, die ein Studium auch ohne Zugangsbeschränkung des Numerus clausus ermöglicht, und genauso die Medizinerausbildung in Chemnitz. Auch in der Telemedizin gibt es Fortschritte – dass diese neuen Möglichkeiten nicht noch häufiger genutzt werden, liegt auch an dem immer noch nicht zufriedenstellenden Breitbandnetz.
Mit dem neuen Krankenhausgesetz wurden bereits Ende 2022 die Pfeiler für eine Klinikplanung eingeschlagen – selbst wenn der Bund erst in diesem Jahr nachgezogen hat: Die medizinische (Grund-)Versorgung soll flächendeckend gesichert werden. Um insgesamt mehr Nachwuchs in den Gesundheitsbereich zu bekommen, wurden diese Ausbildungsberufe – etwa für Pflegekräfte – vom Schulgeld befreit.
Um das Integrationsgesetz gab es über Jahre hinweg Diskussionen – im Mai 2024 ist es dann beschlossen worden, allerdings mit weniger verbindlichen Regelungen als ursprünglich angedacht. In den Sozialbereich fallen unter anderem auch die Gründung einer Ehrenamtsagentur und die höhere Pauschale für ehrenamtliche Übungsleiter.
Energie und Klimaschutz
Diese Bereiche hatten die Grünen, die 2019 neu in die Koalition gekommen waren, für sich verbucht – und waren mit großen Ambitionen gestartet. Über die Jahre stellte sich heraus: Man hatte sich vieles einfacher vorgestellt. Heute ist von Widerständen – und dabei ist insbesondere die CDU gemeint – die Rede, die zu bewältigen gewesen seien. Als Beispiel gilt etwa die Überarbeitung des Energie- und Klimaprogramms, das mit mehr als einem Jahr Verspätung die Koalition passierte. Dagegen scheiterte der Plan, den Klimaschutz als Staatsziel in der Landesverfassung zu verankern.
Im Jahr 2019 war auch ein Zubau von vier Terawattstunden erneuerbarer Stromproduktion vereinbart worden. Das hätte einer Verdoppelung des damaligen Standes entsprochen. Diese zusätzliche Energie sollte hauptsächlich von Windrädern stammen. Das Ausbauziel ist nicht erreicht worden – allerdings ist der Freistaat aufgrund der Photovoltaik auf einem guten Weg. Bei der Windkraft herrscht dagegen weiterhin Flaute. Allerdings laufen derzeit 139 Genehmigungsverfahren, was ein Höchstwert ist.
Mit einer neuen Flexibilisierungsklausel kann der vereinbarte Windrad-Abstand von 1000 Metern zur Wohnbebauung unterschritten werden. Auch Windräder im Wald sind nun möglich, was der Koalitionsvertrag eigentlich ausgeschlossen hatte. Insgesamt ist die Ankündigung, mehr Bürgerservice – etwa durch Beteiligungsmöglichkeiten von Kommunen oder Beratungsleistungen – zu bieten, umgesetzt worden.
Daneben hat Sachsen nun eine eigene Wasserstoffstrategie, doch in den Bundesplanungen spielt Chemnitz keine Rolle. Außerdem gibt es unter anderem einen Klimafonds und auch die sogenannte Klimamillion für Landkreise und kreisfreie Städte. Erstmals hat der Freistaat auch einen „Wasserplan“, der das Land für kommende Dürreperioden wappnen soll..
Sicherheit und Recht
Ein Dreh- und Angelpunkt auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit sind die zusätzlichen tausend Polizeistellen. Derzeit verbreitet die Landesregierung Optimismus, das Ziel bis zum Jahresende zu schaffen. Die Aufstockung allein im Streifendienst beträgt laut Innenministerium seit 2019 aktuell 847 Beamtinnen und Beamte. Parallel wurden seit 2022 die Einstellungszahlen für Polizeianwärter immer weiter gesenkt: von 700 auf 450 in diesem Jahr.
Bei Bedarf sollten laut Koalitionsvertrag auch neue Polizeireviere oder -standorte eingerichtet werden, nachdem diese in den Jahren zuvor ausgedünnt worden waren. Hier hat es keinen Zuwachs gegeben. Mit 429 arbeiten zudem ganze acht Bürgerpolizisten mehr als im Januar 2020.
Dagegen ist die Kennzeichnungspflicht für Polizisten in geschlossenen Einheiten sozusagen auf den letzten Drücker beschlossen worden. Betroffene anlassloser Kontrollen erhalten neuerdings als Nachweis eine Kontrollbescheinigung, wie im Koalitionsvertrag vereinbart. Auch die Prüfung auf Verfassungstreue bei Neueinstellungen und das Gesamtkonzept gegen Rechtsextremismus wurden umgesetzt.
Im Justizbereich ist die Null-Toleranz-Strategie, die noch Anfang 2019 eingeführt worden war, zügig wieder gekippt worden. Im Fokus von Ministerin Katja Meier (Grüne) steht die Resozialisierung und Prävention. Meier hat auch zahlreiche Bundesinitiativen gestartet, etwa zum politischen Stalking und zur Richteranklage. Zudem tragen das Transparenzgesetz, das den Zugang von Bürgerinnen und Bürgern zu Informationen des Freistaates regelt, und das Gleichstellungsgesetz ihre Handschrift. Zur Wahrheit gehört aber auch: Gerade bei der Gleichstellung musste Meier einige Abstriche machen.
Die Ankündigung, die Hürden für Volksanträge und Volksbegehren deutlich zu senken, ist nicht umgesetzt worden. Auch den sogenannten Volkseinwand (“Popularklage“), den Ministerpräsident Kretschmer 2019 angeregt hatte, gibt es nicht. Im Dezember 2023 hatte die Koalition zwar einen gemeinsamen Antrag für mehr Volksgesetzgebung eingebracht, in der CDU-Fraktion gab es dafür auf den letzten Metern aber keine Mehrheit.
Wirtschaft und Agrar
Ein wesentlicher Punkt im Bereich Wirtschaft war das neue Vergabegesetz – doch die jahrelangen Verhandlungen sind gescheitert. Mit der CDU war der vorliegende Gesetzentwurf nicht umzusetzen, aus der Wirtschaft war reichlich Kritik gekommen. Die SPD hat bereits einen neuen Anlauf angekündigt, sollte sie an der nächsten Regierung beteiligt sein.
Im Handwerk ist der Meisterbonus auf 2000 Euro verdoppelt worden. Für Start-ups wurde eine Gründerförderung eingeführt. Daneben sind etwa Jugendberufsagenturen sowie das Zentrum für Fachkräftesicherung und Gute Arbeit eingerichtet worden. In der Ansiedlungspolitik ist nicht jede Strategie aufgegangen – doch mit dem Halbleiterhersteller TSMC wurde ein ganz dicker Fisch in den Freistaat gezogen. Die ebenfalls in Aussicht gestellten Vereinfachungen von Planungs- und Genehmigungsverfahren wurden hingegen nicht erreicht, wie aus der Wirtschaft vielfach kritisiert wird.
In der Landwirtschaft wurden unter anderem die Forcierung des Ökolandbaus, für den es jetzt auch ein eigenes Kompetenzzentrum gibt, sowie der regionalen Produktion und Vermarktung umgesetzt. Der Biosektor ist seit 2019 um ein Fünftel gewachsen. Das für spätestens Ende 2021 angekündigte Agrarstrukturgesetz, das Spekulationen mit Feldern unterbinden soll, ist am Widerstand der CDU gescheitert.
Nahverkehr und Radwege
Eingeführt wurden in dieser Wahlperiode das Azubi-Ticket (ab 48 Euro) und das Bildungsticket (15 Euro), um in ganz Sachsen eine kostengünstige Möglichkeit zu bieten, den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen. Aktuell haben 225 000 Schülerinnen und Schüler (rund 50 Prozent) ein Bildungsticket. Das Azubi-Ticket ist im Sommer ausgelaufen, es wurde quasi vom Deutschlandticket (49 Euro) abgelöst.
Das Projekt „Sachsentarif“ wurde fallen gelassen, da es seit Mai 2023 das bundesweit gültige Deutschlandticket gibt, das die gleiche Zielrichtung hat. An dem ebenfalls vereinbarten „Sachsentakt“ – einer flächendeckenden Mobilität auch in ländlichen Regionen – wird noch gearbeitet, Voraussetzung ist die Einbindung in den ebenfalls noch nicht abgeschlossenen „Deutschlandtakt“. Von seiner Vorstellung, eine Landesverkehrsgesellschaft zu gründen, hatte sich Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) frühzeitig verabschieden müssen – stattdessen sollte es eine Mobilitätsgesellschaft geben, die aber noch nicht installiert wurde.
Ein weiteres Ziel war, dass bis 2024 mindestens 80 Prozent der Sachsen Zugang zu einem getakteten Nahverkehr haben. Im Vergleich zu 2019 würde dies einem Plus von einer Million Menschen entsprechen. Deshalb wurde der Anschluss des ländlichen Raums an die Großstädte mit Plus-Bus- und Takt-Bus-Diensten gestärkt: Bisher sind sachsenweit 140 Linien umgesetzt worden, davon 83 Plus-Busse und 57 Takt-Busse. Laut Verkehrsministerium komme man damit der Zielmarke „sehr nahe“ und liege bei einem Plus von mehr als 900 000 Menschen.
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) zieht hingegen eine ernüchternde Bilanz zum Radverkehr: Von 18 im Koalitionsvertrag erklärten Zielen seien neun nicht erfüllt worden und sechs nur zum Teil. Der Plan, dass die mit dem Fahrrad zurückgelegten Wege bis 2025 verdoppelt werden, wird deutlich verfehlt. Im vergangenen Jahr wurden lediglich 8,3 Kilometer neue Radewege an Staatsstraßen fertiggebaut. Dulig wirft den Grünen vor, Verfahrensvereinfachungen zu verhindern – so müssten beispielsweise „sinnlose Vorschriften ... wie die Umweltverträglichkeitsprüfung“ gestrichen werden.
Haushalt und Stellen
Im Koalitionsvertrag heißt es beim Stichwort Finanzen: „Der Personalbereich ist strukturell einer der größten Ausgabenblöcke im sächsischen Landeshaushalt.“ Deshalb müsse die Effizienz und Leistungsfähigkeit der Verwaltung erhöht werden. Doch die Zahlen sagen etwas anderes: Bis zum Jahresende 2024 wird mit dann 96 491 Stellen ein 20-Jahre-Höchststand markiert werden. Innerhalb der vergangenen fünf Jahre sind insgesamt 5250 Stellen hinzugekommen. Der Landesrechnungshof nennt die Entwicklung des Personalbestandes unter der schwarz-grün-roten Koalition „in allen wesentlichen Punkten alarmierend“.
Auch eine klarere Strukturierung von Förderprogrammen ist nicht gelungen: Der Sächsische Städte- und Gemeindetag (SSG) hat ausgerechnet, dass Antragsteller im Freistaat vor fünf Jahren unter 330 verschiedenen Förderrichtlinien, Programmen und Geldtöpfen wählen konnten. Das war schon damals bundesweit ein Spitzenplatz. Inzwischen seien geschätzt 40 neue Möglichkeiten für Zuschüsse hinzugekommen, so der SSG.