„Freie Sachsen“ machen sich größer, als sie sind

LVZ, Delitzsch-Eilenburg

Seit dem Abflachen der Corona-Pandemie schrumpfen die Montagsdemos der rechtsextremen Kleinstpartei nicht nur in Nordsachsen. Aber es gibt auch Ausnahmen – wie in Eilenburg.

Eilenburg. Die „Freien Sachsen“ sind unzufrieden. „Es waren viel zu wenige! Alle meckern und keiner macht was dagegen“, schreibt eine Person über eine Demo im nordsächsischen Telegram-Kanal der rechtsextremen Gruppe. Kommentare wie diesen gibt es viele. Die „Freien Sachsen“ haben vielerorts damit zu kämpfen, dass sich kaum noch Menschen an ihren Aktionen beteiligen. Und doch schaffen sie es – wie zum Beispiel in Eilenburg – für große Aufmerksamkeit zu sorgen und der Politik ihre Themen aufzuzwingen. Wie gelingt das den „Freien Sachsen“?

Johannes Kiess, Politikwissenschaftler am Leipziger Else-Frenkel-Brunswick-Institut für Demokratieforschung, beobachtet rechte Gruppen in Sachsen und deren Telegram-Gruppen schon lange. Die „Freien Sachsen“ hätten während der Corona-Pandemie einen großen Zulauf gehabt. „Aber dann wurde es immer schwieriger, Menschen für Demos zu mobilisieren. Die Energiekrise und Inflation haben nicht so stark – wie von rechten Gruppen erhofft – gezogen. Der ‚heiße Herbst‘ und ‚Wutwinter‘ sind ausgeblieben“, erklärt Kiess die teils niedrigen Teilnehmerzahlen auf den Montagsdemonstrationen.

Erfolge mit dem
„Brot-und Butter-Thema“

„Jetzt machen die ‚Freien Sachsen‘ aber gegen die Unterbringung von Geflüchteten mobil“, sagt Kiess, „und das ist ein Brot-und-Butter-Thema der Rechten.“ Diese Beobachtung wird gestützt durch Zahlen der Polizeidirektion Leipzig: In Eilenburg wurde der Höhepunkt der Teilnehmerzahlen an Montagsdemos im Januar 2022 verzeichnet. Danach ging es aber immer weiter bergab, „zum Jahresende tendierte die Teilnehmerzahl gegen Null“, teilt die Polizei auf LVZ-Anfrage mit. 2023 stiegen die Zahlen wieder leicht. In Torgau sind es im Schnitt 60 bis 100 Teilnehmer, in Oschatz 70 bis 90 Teilnehmer. Auch die Montagsdemos in Eilenburg folgen diesem Trend: Am gestrigen Montag (20. März) versammelten sich etwa 100 Menschen auf dem Marktplatz. Damit reihte sich die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wieder auf dem Niveau ein, das zu Jahresbeginn festgestellt wurde.

Eine Ausnahme gab es allerdings: Am 20. Februar kamen nach Polizeiangaben rund 530 Demonstrantinnen und Demonstranten in der Eilenburger Innenstadt zusammen. Die AfD hatte zu der Demo aufgerufen, sie wollte ein Zeichen gegen die Unterbringung von Geflüchteten im Landkreis setzen, worauf auch die „Freien Sachsen“ ansprangen. Nicht nur die starke Mobilisierung durch Protest gegen Geflüchtete macht für Politikwissenschaftler Kiess diese Demo zu einem typischen Fall: „Es ist nach meiner Einschätzung nicht ganz klar, wie verwurzelt die ‚Freie Sachsen‘ tatsächlich in der Region sind. Aber indem sie auf Demos anderer Gruppen zum Beispiel mit ihren Fahnen präsent sind, erwecken sie den Eindruck, größer zu sein als sie tatsächlich sind.“

Schmücken sich die „Freien Sachsen“ mit fremden Federn?

Kiess vermutet dahinter eine Marketingstrategie. Es gebe Hinweise, dass die „Freien Sachsen“ für Demos in der Region werben und deren Erfolg schließlich für sich beanspruchen würden. „In den Telegram-Kanälen werden dann Videos von Demos verbreitet, versehen mit dem Logo der ‚Freien Sachsen‘. Ob die Demos aber wirklich von dieser Gruppe organisiert und getragen werden, ist nicht klar.“ Die Polizeidirektion Leipzig schreibt, dass sich oft nur „vereinzelt“ Sympathisanten der „Freien Sachsen“ unter den Demo-Teilnehmenden befänden.

An den Telegram-Videos lässt sich aber auch ablesen, dass die Gruppe ihr Potenzial nicht ausschöpft. Im Kanal der „Freien Sachsen“ sind rund 150 000 Menschen – laut einem von Kiess’ Institut herausgegebenem Bericht schauen sich aber nur rund 60 000 Menschen die Beiträge an. Das lässt sich in der App für jeden einzelnen Beitrag ablesen. Die Zahlen zeigen laut dem Bericht, dass die Mobilisierungsfähigkeit der „Freien Sachsen“ „nur halb so hoch ist, wie die Zahl der Abonnentinnen und Abonnenten vermuten ließe.“

Auf die Strategie der „Freien Sachsen“ versuchen auch andere aufzuspringen, vermutet Torsten Pötzsch, der für die SPD im Eilenburger Stadtrat sitzt: „Ferdinand Wiedeburg, Stadt- und Kreisrat für die AfD, versucht den Eindruck zu erwecken, er sei ein wichtiger Protagonist der Montagsdemos in Eilenburg. Dabei ist das Portfolio der Demonstranten groß und besteht nicht nur aus klassischem AfD-Publikum.“ Die Polizei beobachtet ähnliches: Als bei der Demo am 6. März kein Versammlungsleiter zu erkennen war, hätte der AfD-Politiker sich bereit erklärt, diese Rolle zu übernehmen.

Insgesamt, erklärt Kiess, könne man mittlerweile von einer „hybriden extrem rechten Szene“ sprechen. Auf der einen Seite gebe es rechtsextremen Kader, wie zum Beispiel „Freie Sachsen“ oder den ehemaligen Leipziger NPD-Stadtrat Enrico Böhm, der nach Beobachtung der Gruppe „Leipzig nimmt Platz“ auch bei der Eilenburger Demo gegen Geflüchtete im Februar teilgenommen haben soll. Auf der anderen Seite würde die Szene ins verschwörungsideologische ausfransen, wie etwa mit Corona-Leugnern. „Alle vereint aber, dass sie versuchen, nicht als klassische Parteien zu agieren, sondern möglichst agil sein wollen“, erklärt Kiess.

Pötzsch: Der Oberbürgermeister reagiert nicht

Unter diese agile Strategie fällt auch die Kommunikation in den Telegram-Gruppen. Aber auch abseits des Internets versuchen die Gruppen präsent zu bleiben: „Die ‚Freien Sachsen‘ rufen zum Beispiel dazu auf, dass sich ihre Sympathisanten für das Amt der Schöffen an Gerichten bewerben. Allerdings ist die Frage, ob es in der Gruppe überhaupt genug Leute gibt, die so etwas machen würden“, so Kiess.

Der Politikwissenschaftler weist noch auf einen weiteren Faktor hin, der beeinflusst, wie viele Menschen für eine Demo „aktiviert“ werden könnten: Wenn die Kommunalpolitik vor Ort nicht gegen Demos Stellung bezieht oder sie sogar mit ihren Aussagen legitimiert, führe das zu einer stärkeren Mobilisierung, als wenn die Politik klare Kante zeigen würde, sagt Kiess. SPD-Stadtrat Pötzsch sieht für Eilenburg eher ersteres gegeben. Oberbürgermeister Ralf Scheler (parteilos) ducke sich mit der Aussage weg, die Unterbringung von Geflüchteten sei Sache des Landkreises, nicht der Stadt. „Das stimmt zwar, aber der Oberbürgermeister müsste eine viel offensivere Kommunikation führen, wie die Stadt damit umgehen will. Scheler tritt den Demos gar nicht entgegen“, sagt Pötzsch.

Im Nachgang der Demo am 20. Februar ordnete Scheler die Proteste gegenüber der LVZ so ein, dass es jedem möglich sei, sich mit seiner Meinung und seinen Ansichten zu äußern. „Voraussetzung jeder Meinungsbekundung ist Sachlichkeit und Gewaltfreiheit.“

Wie erfolgreich die „Freien Sachsen“ langfristig sind, wird zum einen vom Mobilisierungspotenzial der diskutieren Themen abhängen, das glauben sowohl Pötzsch als auch Kiess. Der Rechtsextremismus-Experte vermutet, dass beispielsweise Themen rund um den Klimawandel für die Rechten schwer verwertbar seien. Zum anderen hängt für Kiess auch einiges an der Einigkeit der Gruppierung: „Die Menschen kommen auch zu Demos, wenn diese radikaler werden. Sie kommen aber dann nicht mehr, wenn es unter den Teilnehmenden persönliche Verwerfungen, inhaltliche Uneinigkeit und Frustration über die eigenen Erfolge beziehungsweise Misserfolge gibt.“