Eine vergebene Chance für die Region?

Leipziger Volkszeitung

In Wiedemar soll nach dem Willen der Bürgerinnen und Bürger kein Industriegebiet entstehen. Damit geht es für das größte Vorhaben im Raum Leipzig vorerst nicht weiter. Was bedeutet die Entscheidung? Und profitieren andere Projekte? Ein Ausblick.

Leipzig/Wiedemar.

In Wiedemar wollte der Freistaat Sachsen groß denken. 400 Hektar sollten in der nordsächsischen Gemeinde für Ansiedlungen entwickelt werden - die Staatsregierung hoffte auf neue Jobs, namhafte Investoren und Zukunftsbranchen. Es war Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) selbst, der sich für das Industrievorsorgegebiet (IVG) eingesetzt hatte. Doch nun ist von den Plänen nicht viel übrig, Kretschmer muss eine Niederlage verkraften.

 

In einem Bürgerentscheid haben die Wahlberechtigten am Sonntag gegen die Entwicklung des Areals gestimmt. Bei 3284 abgegebenen Stimmen sprachen sich rund 65,3 Prozent (2143 Bürgerinnen und Bürger) gegen eine Fortführung des Vorhabens aus. Damit steht ein Projekt vor dem Aus, das bis nach Leipzig Strahlkraft entfalten sollte. Ist das nun ein Rückschlag für die Wirtschaftsregion? Und wie geht es weiter? Ein Überblick über die drängendsten Fragen.

▶ Warum hatte das Projekt eine so große Bedeutung für die Landesregierung?

Hier ist zunächst die Größe des Gebiets zu nennen: 400 Hektar Ansiedlungsfläche - so viel Platz gibt es in Sachsen sonst nicht mehr. Aus Sicht des Freistaates ist das Areal daher bestens geeignet, zukunftsfähige Branchen anzusiedeln. Genannt wurden die Automobilindustrie, die Halbleiterindustrie oder die Pharma- und Chemieindustrie. Möglichst ein, maximal zwei Investoren sollten sich auf dem Gelände niederlassen. Auch die Lage macht die Fläche zu einer mit besonders hoher Attraktivität: Die A9 ist in unmittelbarer Nähe, auch zum Flughafen ist es nicht weit.

Mit der Schaffung des nötigen Baurechts wollte man zudem vorbereitet sein, sollte ein Investor an die Tür klopfen. In der Vergangenheit hatte der Freistaat auch mangels Flächen das Nachsehen: Der US-Konzern Intel hatte Sachsen für seine neue Chipfabrik bereits im Blick, entschied sich dann aber für Magdeburg. So sollte es nicht noch einmal laufen. Konkrete Investorenanfragen für das Gebiet soll es bisher aber nicht gegeben haben.

▶ Die Bürger haben sich gegen das Industriegebiet ausgesprochen. Wie fallen die Reaktionen von Gegnern und Befürwortern aus?

Für die Bürgerinitiative „Kein Industriegebiet zwischen Wiedemar-Brehna-Delitzsch“ ist das Ergebnis vom Sonntag ein Sieg, entsprechend freut sie sich über das in ihren Augen „unfassbar tolle und eindeutige Ergebnis“. Die Menschen hätten entschieden zu schützen, „was sie lieben und wofür sie hergezogen sind“, sagte Sprecherin Luisa Gruber. Das Ergebnis wertete sie als „Denkzettel für den Freistaat. Wir wollten und werden nie zulassen, dass eine Großindustrie zwingend auf einer der besten Ackerflächen Deutschlands errichtet werden muss.“

Enttäuscht wirkte am Montagmorgen Wiedemars Bürgermeister Steve Ganzer. „Damit ist eine Chance für nachfolgende Generationen vertan“, sagte der CDU-Politiker, der sich von Beginn an für das Industrievorsorgegebiet ausgesprochen hatte. „Bei uns bleibt alles, wie es ist“, sagt Ganzer nun. Wie die Gemeinde künftige Vorhaben finanzieren soll, weiß er aktuell nicht. „Die Gemeinde wird weiter kleine Brötchen backen. Irgendwie wird auch das gehen.“

Ministerpräsident Kretschmer teilte indes mit: „Die Einwohner haben entschieden und wir respektieren das.“

▶ Was bedeutet Entscheidung für die Wirtschaftsregion?

Führende Wirtschaftsvertreter aus dem Raum Leipzig machen kein Geheimnis daraus: Sie hatten sich ein anderes Ergebnis erhofft. Dass die Bürger eine Fortführung der Planungen abgelehnt haben, nannte Fabian Magerl, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Leipzig, „sehr bedauerlich“. Doch sei das Ergebnis zu respektieren.

„Für die wirtschaftliche Entwicklung in der Region wird dadurch eine große Chance vertan, da der Zugang für bedeutsame Industrieansiedlungen und -arbeitsplätze nunmehr verbaut zu sein scheint“, sagt Magerl auf LVZ-Anfrage.

Auch für Jörn-Heinrich Tobaben, Geschäftsführer der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland, steht fest: „Die Ablehnung des IVG Wiedemar ist kein gutes Signal für den Wirtschaftsstandort Sachsen und Mitteldeutschland.“

Zum einen sei die Akzeptanz für Industrieansiedlungen seit der Wende ein wichtiger Standortfaktor für potenzielle Investoren gewesen. „Zum anderen existieren in der Region kaum noch sogenannte Jokerflächen, also Industrie- und Gewerbegebiete von mindestens 200 Hektar Größe, für die bereits ein Bauplanungsrecht besteht.“ Strukturbestimmende Ansiedlungen wie BMW, Porsche oder DHL würden so in Zukunft kaum noch möglich sein.

Auch Frank Schönfelder, beim Immobilienvermittler BNP Paribas Real Estate für den Logistik- und Industriebereich der neuen Bundesländer zuständig, denkt, dass Wiedemar eine Chance vertan hat. „Ansiedlungen sind wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung einer ganzen Region. Und sie nützen den Einwohnern im Umfeld auch.“

Welche langfristigen Auswirkungen das Ergebnis auf die Entwicklung der Region hat, sei schwer abzuschätzen, sagt Dirk Diedrichs, Beauftragter der Staatsregierung für Großansiedlungen. „Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Möglichkeit, ein Industrievorsorgegebiet für zukünftige großvolumige Industrie-Ansiedlungen zu entwickeln, in der geplanten Form derzeit nicht weiterverfolgt werden kann.“

▶ Erhöhen sich nun die Chancen für andere Projekte?

Es ist gut möglich, dass andere Projekte in der Region an Fahrt gewinnen. Denn zum Bild gehört auch: Die Konkurrenz um Investoren dürfte nun abnehmen. Schließlich werden sie auch andernorts gesucht: Am Flughafen Leipzig/Halle wollen Airport, Stadt Leipzig und der Freistaat Sachsen ebenfalls 100 Hektar für Investoren entwickeln. Im Nachbarbundesland Sachsen-Anhalt sollen in Weißenfels Ansiedlungen auf 400 Hektar erfolgen, die Pläne sind aber noch in einem frühen Stadium.

▶ Wie geht es in Wiedemar jetzt weiter?

Nach der Bürgerabstimmung ist jetzt der Gemeinderat am Zug: Er wird das Votum vom Sonntag umsetzen. Für drei Jahre liegt das Vorhaben dann in jedem Fall ad acta, in dieser Zeit ist das Ergebnis bindend. In der Theorie könnte der Gemeinderat dann erneut über das Industriegebiet abstimmen. Möglich ist zwar auch, dass ein weiteres Bürgerbegehren den aktuellen Entscheid aufhebt - das ist aber unwahrscheinlich. So sieht alles danach aus: Wiedemar wird bis auf Weiteres kein neues Industriegebiet bekommen.