Mit geheimer Adresse: Fünf Frauen und fünf Kinder leben im Frauenhaus

LVZ, Delitzsch-Eilenburg

Pro Jahr gibt es deutschlandweit rund 150 000 Opfer häuslicher Gewalt. Fünf von ihnen finden aktuell Schutz in einem Frauenhaus in der Region Leipzig. Redakteurin Claudia Carell hat das Gebäude mit geheimer Adresse besucht.

Am Klingelschild des Schutzhauses steht kein Name. Denn die Frauen und Kinder, die hier wohnen, wollen nicht gefunden werden. Die Adresse des Gebäudes in einem Ort im Landkreis Leipzig bleibt geheim.

Chris Tansienne öffnet die Haustür. Sie ist Sozialarbeiterin und will genau hier arbeiten. Die junge Frau lernte zunächst Buchhändlerin, merkte dann aber, dass dies nichts für sie ist. „Es gibt ein enormes Maß an Gewalt in unserer Gesellschaft, neben der körperlichen vor allem die psychische“, sagt sie. „Ich hatte das dringende Bedürfnis, etwas dagegen zu tun.“ Sie studierte Soziale Arbeit und ist seit einem Jahr im Frauenhaus beschäftigt.

Derzeit betreut sie mit ihrer Kollegin dort fünf Frauen und fünf Kinder. Das Gebäude ist recht klein und eng. Im Flur sind zwei Kinderwagen geparkt, einen Keller gibt es nicht. Im gemeinsamen Wohnzimmer im Erdgeschoss stehen zwei kleine Couchs, ein Wäscheständer ist voll behängt. Auch im zehn Quadratmeter großen Spielzimmer mit Puzzles, Spielzeugautos und Büchern steht Wäsche zum Trocknen.

In der kleinen Küche nebenan sitzen drei Frauen und reden. Mehrere Kinder wirbeln um sie herum. Ein etwa dreijähriger Junge klappert mit einem Schlüssel. Zwei größere Mädchen diskutieren über ein Computerspiel. Draußen im kleinen Hinterhof können die Bewohnerinnen bei diesen Temperaturen nicht mehr sitzen. Verwaist stehen dort vier Stühle und ein Tisch, Dreirad und Spielzeugbagger.

„Leider ist hier alles recht beengt“, meint die Sozialarbeiterin. Das gilt auch für den ersten und zweiten Stock mit sieben Räumen. Sie erinnern an kleine Zimmer einer Jugendherberge. Ein Doppelstockbett, dazu eine einzelne Liege sowie ein Kinderbett. Unter den großen Schlafstätten kann man noch jeweils eine Matratze hervorziehen. In diesem 16 Quadratmeter großen Raum kann eine Mutter mit maximal fünf Kindern übernachten. Ein Schrank sowie ein Tisch mit drei Stühlen finden gequetscht gerade noch so Platz. Über den Flur gibt es Dusche und Toilette in kleinen Kabinen. 

„Die Frauen, die oft Schlafstörungen haben, sollen hier bei uns erst mal zur Ruhe kommen. Wenn sie mit mehreren Kindern in einem Zimmer wohnen, ist das manchmal schwierig“, weiß Chris Tansienne. In der Regel leben die Betroffenen drei Monate im Frauenhaus. Dann sind sie so weit, in eine eigene Wohnung zu ziehen.

Mann litt an krankhafter Eifersucht

Alma (Name von der Redaktion geändert) ist nicht zum ersten Mal hier. Die Mutter von inzwischen erwachsenen Kindern war mehr als zwanzig Jahre mit einem Mann verheiratet, der an krankhafter Eifersucht litt, „das war Terror“, wie sie erzählt. Lange Zeit habe sie gedacht, es sei Liebe, „aber es war nur Kontrolle“.

Sie trennte sich von ihrem Ehemann – und kam vom Regen in die Traufe. Nach einer nur anfangs schönen Zeit mit ihrem neuen Freund merkte sie, dass er Alkoholiker war. Alma wuchs selbst in einer Familie auf, in der Alkoholsucht und Gewalt zum Alltag gehörten.

Ihr Freund schlug sie das erste Mal, als sie sich nur wenige Monate kannten. Etwas später sei er „im Suff komplett ausgerastet“. Sie hatte Blutergüsse am Arm und war im Gesicht verletzt. Alma schloss sich im Badezimmer ein und rief die Polizei. Die Beamten brachten sie ins Frauenhaus.

Monate später zog sie in eine eigene Wohnung ins Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses. Doch nach zwei Vorfällen musste sie von dort wieder weg. Einmal wurde mit einem Luftgewehr auf ihr Küchenfenster geschossen, als sie sich gerade einen Kaffee kochte. Etwas später wurden die Scheiben von ihrem Wohn- und Schlafzimmer eingeworfen. Die Polizei ermittelt in beiden Fällen. Nun lebt Alma erst mal wieder im Frauenhaus.

Jede Bewohnerin kann hier für sich in ihrem Zimmer sein, wenn sie das möchte, meint Alma, „aber wir versuchen auch ein bisschen wie eine Familie zu sein und mal zusammen zu kochen und zu reden“. Nun sei jede Frau verschieden, mal passt es gut und manchmal auch nicht.

Ihren Kindern, die weit weg wohnen, erzählt sie nicht, wo sie derzeit ist. Sie begründet das so: „Sie sollen ihr Leben leben und nicht mit meinen Problemen belastet werden.“ Alma greift nach der Hand der Sozialarbeiterin und sagt: „Du gibst mir viel Kraft.“

Chris Tansienne betont, dass es keinen vorgeschriebenen Tagesablauf im Frauenhaus gibt: Jede Bewohnerin – maximal sieben Betroffene können untergebracht werden – soll ihren eigenen Rhythmus festlegen und kann gehen, wohin sie will, „wir sind hier kein Knast“. Manch eine Frau hat einen Job und bringt Sohn oder Tochter in den Kindergarten.

Genau das sei aber derzeit häufig ein Problem: „Es ist für uns ganz schwer, einen Kita-Platz zu finden.“ Aktuell zum Beispiel möchte eine junge Frau arbeiten, aber ihre fünfjährige Tochter kann nicht betreut werden.

Im neuen Haus gibt es viel mehr Platz

Seit 2003 hat das Frauenhaus hier sein Domizil, die Räume wirken zum Teil abgewohnt. Bald wird sich sehr viel verändern. Der Wegweiser-Verein zieht als Träger des Schutzhauses im nächsten Jahr in eine neue eigene Immobilie.

Im neuen Haus stehen nicht mehr wie bisher 200 Quadratmeter Nutzfläche zur Verfügung, sondern das Vierfache – 800 Quadratmeter. Entstehen soll ein Beratungs- und Schutzzentrum für Frauen und Mädchen bei häuslicher und sexueller Gewalt, das viel mehr als das bisherige Frauenhaus anbieten wird. Weil es barrierefrei ist, können dann auch Rollstuhlfahrerinnen und ältere Gehbehinderte aufgenommen werden, „die wir zurzeit wegschicken müssen, weil sie bei uns die Treppe gar nicht hoch kommen“.

Zwölf Familienzimmer wird es geben – mit viel mehr Platz als jetzt. Eine Mutter mit mehreren Kindern hat einen zweiten Raum zur Verfügung. Dann sei es auch nicht mehr schwierig, wenn zum Beispiel eine Frau mit Söhnen im Teenager-Alter Hilfe braucht. Außerdem hat das Haus erfreulicherweise einen großen Garten.

Neu wird ein umfangreiches Beratungsangebot sein – nicht nur für Frauen, die im Schutzhaus leben. Aber auch für sie verspricht sich Chris Tansienne eine ganz andere Qualität. Zum Beispiel sollen Sozialarbeiterinnen dort verstärkt und einzeln mit den Söhnen und Töchtern der Betroffenen arbeiten.

Leider sei es eben so, dass Kinder aus Gewaltbeziehungen häufig unbewusst stark beeinflusst werden: Mädchen suchen sich später einen gewalttätigen Partner, Jungen unterdrücken in Paarbeziehungen oft ihre Freundin oder Frau – sie bekamen es so vorgelebt. „Es gilt diese Sozialisationsmuster zu brechen. Dafür braucht es Hilfe und einen Raum, wo die Betroffenen ihre Gefühle rauslassen können“, meint die Sozialarbeiterin.