„Nirgends sonst in der Bundesrepublik wurden so viele Menschen umgesiedelt”

Ende einer Ära in Leipzig-Westsachsen: Chefplaner Andreas Berkner geht. Im Interview spricht er über wilde Anfänge, ungelöste Dauerbrenner und seinen Lieblingsort.

Landkreis Nordsachsen. 

Andreas Berkner geht nach über einem Vierteljahrhundert an der Spitze des Regionalen Planungsverbandes Leipzig-Westsachen von Bord. Ein Interview mit dem 66-Jährigen, der wie kein Zweiter das Gesicht des Leipziger Neuseenlandes geprägt hat.

 

Herr Professor Berkner, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Arbeitstag?

Ja, natürlich. Das war der 3. Februar 1992 – ein Montag. Den Planungsverband gab es damals noch gar nicht. Der ist erst im November 1992 gegründet worden. Wir waren damals schon auf diesem Standort, haben aber in einer fürchterlichen Baracke gehaust.

Sie kamen von der Martin-Luther-Universität in Halle?

Ja, dort hatte ich eine unbefristete Assistentenstelle. Aber was war in den Zeiten schon unbefristet. Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, den Elfenbeinturm der Wissenschaft zu verlassen und die Regionalplanung, speziell die Braunkohlenplanung, von Anfang an hier in Leipzig mit aufgebaut. Eine Entscheidung, die ich keinen Tag bereut habe.

Welchen Stellenwert hatte die Regionalplanung anfangs?

Nach der Wende hatten wir den „Rucksack der Vergangenheit“ zu tragen. Die Menschen kannten nur die DDR-Planungskultur, in der es Dinge wie Transparenz und Entscheidungsoffenheit im Grunde nicht gab. Die Leute haben uns nicht auf die Schulter geklopft und gesagt: Ihr seid jetzt die Guten und euch glauben wir alles. Gerade in den frühen 1990er-Jahren, als die Industrie zusammenbrach, Tausende arbeitslos wurden, mussten wir erst einmal eine Vertrauensbasis schaffen. Ich spreche rückblickend von der raumordnerischen Wild-West-Zeit. Damals hatte jeder Bürgermeister einen Ordner mit Investoren-Angeboten unterm Arm. Erst in der Gesamtschau wurde klar, dass es oft die gleichen Projekte waren, mit denen vielfach Glücksritter hausieren gingen.

Gab es in der Zeit Fehlentwicklungen?

Und ob. An der einen oder anderen Stelle sind sie bis heute sichtbar. Stichwort Einkaufscenter auf der grünen Wiese. Oder Suburbanisierung, die historischen Dorfstrukturen erkennbar geschadet hat.

Besonders in den Anfangsjahren mussten zahlreiche Konflikte befriedet werden. Welche Auseinandersetzungen sind Ihnen besonders an die Nieren gegangen?

Eindeutig die Umsiedlung von Heuersdorf. Das war die größte Herausforderung in meinem Arbeitsleben. 320 Menschen ihre Heimat zu nehmen, um einen Tagebau zu sichern – das macht niemandem Spaß. Heuersdorf war die letzte Ortschaft im Mitteldeutschen Revier, die der Kohle weichen musste.

Zum Hintergrund: Nirgends sonst in der Bundesrepublik wurden so viele Menschen umgesiedelt wie in Mitteldeutschland. 54.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen – deutlich mehr als im Rheinland (42.000) und der Lausitz (29.000). Und ohne die politische Wende wären es noch einmal 15.000 mehr gewesen. Die Pläne reichten von Zwenkau bis nach Bad Düben.

Wie konnten Sie bei Heuersdorf Einfluss nehmen?

Wir haben im sogenannten Heuersdorf-Vertrag faire Bedingungen ausgehandelt, erstmals galt das Prinzip Umsiedlung ohne Neuverschuldung, das hatte es bis dahin in Deutschland noch nicht gegeben.

Gleichzeitig schuf der aktive Bergbau die Grundlage für das Leipziger Neuseenland.

Exakt. Die Mondlandschaften waren die Voraussetzung, dass überhaupt Seen entstehen konnten. Und ohne die Flutungswasserleitung aus den beiden aktiven Tagebauen Vereinigtes Schleenhain und Profen hätten sich die Seen auch nicht so schnell gefüllt. Ich war Mitte 30, als wir die Wasserleitung 1997 in Betrieb genommen haben, und 2018 habe ich sie symbolisch mit zugedreht, nachdem sie ihre Mission erfüllt hatte.

Sie haben einmal geäußert, es sei keine Kunst, hinterher schlauer zu sein. Dennoch die Frage: Welche Entscheidungen würden Sie heute anders treffen?

So positiv die Entwicklung an der Lagune Kahnsdorf ist, das wäre so ein Beispiel, wo wir uns Optionen verbaut haben. Das Problem „Braune Pleiße“ würde man aus heutiger Sicht vermutlich anders angehen. Aber zu den großen Linien der Entwicklung im Leipziger Neuseenland kann ich stehen.

Wie viel Nerven hat Sie Leipzig als Herzstück der Planungsregion gekostet?

Leipzig war ja in den 1990er-Jahren auf dem besten Weg, unter die 400.000-Einwohnergrenze zu rutschen. Erst durch das Stadt-Umland-Gesetz 1999 und die Eingemeindungen hat Leipzig wieder an Substanz gewonnen, um die halbe Million wieder in Sicht zu bekommen. Auch Markkleeberg sollte bekanntlich eingemeindet werden, hat sich aber erfolgreich heraus geklagt. Es geht immer um Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Sie haben auch einen Kampf um die Mittelzentren geführt.

Ja, deren Zahl sollte 2003 durch die Landesplanung drastisch reduziert werden. Das hätte dazu geführt, dass ehemalige Kreisstädte wie Wurzen, Eilenburg oder Oschatz auch noch ihren Status als Mittelzentrum eingebüßt hätten. Dagegen haben wir uns erfolgreich zur Wehr gesetzt.

Anfangs gehörte auch noch Döbeln zum Verband.

Ja, der Verlust des Altkreises Döbeln 2008 hat sehr weh getan. Das passiert, wenn Politik die Folgen ihres Handels nicht abschätzt. Mit dem Verlust des Altkreises Döbeln haben wir 75.000 Einwohner verloren. Damit gingen große Teile der EU-Förderung für die gesamte Region flöten.

Die Zahl der Kommunen ist von 351 im Jahr 1992 auf inzwischen 61 gesunken. Wohin geht die Reise?

Hier gibt es seit 2008 kaum Bewegung. Freiwillig können sich Kommunen zusammenschließen, aber Zwangs-Ehen wird es auch nach dem neuen Koalitionsvertrag nicht geben. Und bei dem Thema ist es wie so oft: Es gibt begehrte Kommunen und es gibt Übrigbleiber. Abschreckendes Beispiel war hier Sachsen-Anhalt mit einer brachialen Gebietsreform, die zu Gebilden wie Gardelegen mit 15.000 Einwohnern auf 600 Quadratkilometern geführt hat. Da geht jegliche Identität verloren. Besser gefallen mir da schon Konzepte wie das Wurzener oder das Partheland. Hier wird deutlich, man muss nicht immer eingemeinden, auch Kooperationen sind ein Weg.

Gibt es Regionen, um die wir uns Sorgen machen müssen?

Für Torgau haben wir eine besondere Verantwortung. Dort sind wir im tiefsten ländlichen Raum mit all seinen Problemen und Herausforderungen. Dass es beim Straßenbauvorhaben B 87n auch nach 30 Jahren keine Fortschritte gibt, hilft da nicht wirklich. Der kordische Knoten heißt Taucha. Und machen wir uns nichts vor: Selbst wenn man morgen sagt, wir einigen uns auf eine Trasse, wäre Baubeginn in zehn Jahren.

Welche weiteren Dauerbrenner ärgern Sie?

Die Ortsumgehung der B107 in Grimma. Wir haben damals gesagt: Geht nicht durch das Klosterholz, nehmt eine bahnparallele Trasse. Doch die Straßenbaubehörde wollte mit dem Kopf durch die Wand. Es kam, wie es kommen musste, 2005 wurde die Planfeststellung zur Ortsumgehung weggeklagt. Und das lag maßgeblich daran, dass man sich über unsere Expertise hinweggesetzt hat. Die Planfeststellungsbehörde wusste es besser und hat dafür die Quittung kassiert. Und 20 Jahre später ist immer noch kein Weiterbau in Sicht.

Was mich auch ärgert: Wir haben bis heute keine Anschlussstelle Frohburg an der A72, auch vor dem Hintergrund, dass man damit die Belange der Landwirtschaft nicht angemessen beachtet hat. Das ist inzwischen auch ein Zustand, der über 15 Jahre anhält und sich bis ins Altenburgische auswirkt.

Warum ist die Situation vielfach so verfahren? Kann Regionalplanung hier nicht eingreifen?

Die Botschaft, die dahinter steckt, ist die: Man sollte so frühzeitig wie möglich miteinander reden. Wenn man sich erst vor Gericht sieht, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Region auch beim umstrittenen Thema der Erneuerbaren eine gemeinsame Sprache findet?

Speziell der Ausbau der Windenergie bewegt die Gemüter, was ich gut verstehen kann. Wir sind hier in der Situation, wählen zu müssen, ob wir den Prozess selbst gestalten oder einen Wildwuchs dann weitgehend ohne Einflussmöglichkeiten riskieren. Bei allem Verständnis für Vor-Ort-Betroffenheiten hoffe ich sehr, dass es über ein faires Verfahren auch mit umfassenden Beteiligungsmöglichkeiten gelingt, die Thematik zu befrieden.

Als Regionalplaner saßen Sie oft zwischen den Stühlen, mussten widerstreitende Interessen einen. Wie gelingt das?

Jeder hält natürlich seine Belange für die wichtigsten. Aber es gibt eben auch konkurrierende Aspekte und man kann es nicht jedem recht machen. Regionalplanung ist in hohem Maße Moderation, Kompromissfindung. Am Ende muss ein Planwerk stehen, von dem möglichst alle Beteiligten sagen: Ich bin zwar nicht wunschlos glücklich, aber ich kann damit leben.

Ein zweiter Punkt: Man darf sich nicht im Büro verstecken, man muss rausgehen, Rede und Antwort stehen. Und wenn man ehrlich zu den Menschen ist und Klartext redet, lassen sich im Zweifel auch mal Botschaften vermitteln, die nicht so angenehm sind.

Können auch ganz normale Häuslebauer den Rat des Planungsverbandes suchen?

Sicher, das passiert noch viel zu wenig. Dabei ist doch so ein Hausbau eine Lebensentscheidung und man sollte wissen, wo in der Nähe eventuell eine Autobahn, ein Steinbruch oder ein großes Gewerbegebiet im Schwange ist.

Sie stecken noch mitten im Stoff. Wie leicht fällt das Loslassen?

Ich habe mich seit anderthalb Jahren mit dem Gedanken an meinen Ruhestand angefreundet. Ich hinterlasse ein geordnetes Haus. Und auch mein Nachfolger Patrick Halka steht seit einem Jahr fest. Er kann sich auf ein erfahrenes Kollegium stützen. Ich selbst werde niemandem meinen Rat aufdrängen. Wer ihn dennoch sucht, weiß, wo er mich findet.

Füße hochlegen ist wahrscheinlich keine Option?

Eher nicht, für die Familie, vor allem meine Enkelin, möchte ich mir mehr Zeit nehmen. Auch eine erneute Reise nach China, wo ich als junger Wissenschaftler ein Jahr zum Drei-Schluchten-Staudamm geforscht habe, steht auf dem Zettel. Außerdem habe ich bereits drei Bücher im Kopf. Darunter eine zweite Auflage meines Buches „Bergbau und Umsiedlungen im Mitteldeutschen Braunkohlenrevier“.

Zu Ihrer Verabschiedung äußerten Sie die Bitte, Sie nicht mit Blumen oder Wein „zu behelligen“. Stattdessen baten Sie um Spenden für einen Gedenkort, der an Breunsdorf erinnert. Warum?

Breunsdorf musste zwischen 1987 und 1994 der Kohle weichen. Bislang fehlt eine würdige Erinnerungsstätte. Das möchte ich mit Blick auf das Jubiläum 800 Jahre Breunsdorf im kommenden Jahr gern ändern. Es sind fast 5000 Euro zusammengekommen, wofür ich mich herzlich bedanke.