„Schon cool, dass er hier ist“: Steinmeier mit Gesprächen und Selfies in Delitzsch
Der Bundespräsident hat für drei Tage seinen Amtssitz verlegt. Statt Schloss Bellevue ist er nun vor Ort in der Loberstadt. Zum Auftakt am Dienstag nimmt er sich Zeit für einen Spaziergang vom Bahnhof zum Markt.
Delitzsch. Mit freundlichem „Ich grüße Sie“ und einem Lächeln betritt Frank-Walter Steinmeier am Dienstagvormittag Delitzsch. Punkt 10.53 Uhr rollt die S-Bahn aus Bitterfeld am Gleis 1 ein, der Bundespräsident steigt aus – ganz bewusst mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Das Dienstfahrzeug parkt nur wenige Meter weiter. Oberbürgermeister Manfred Wilde (parteilos) begrüßt ihn herzlich, die Sonne tut ihr Übriges, um die Stimmung aufzuhellen. Schon früh am Morgen ist Delitzsch im Ausnahmezustand: Polizeipräsenz, ein kreisender Helikopter und viele Schaulustige in der Innenstadt zeugen vom hohen Besuch.
Steinmeier ist nicht zum ersten Mal in Sachsen, aber erstmals in Delitzsch. Im Rahmen seiner seit 2022 etablierten „Ortszeit“-Reihe verlegt er seinen Amtssitz für einige Tage raus aus Berlin und dieses Mal in die 25.000-Einwohner-Stadt im Landkreis Nordsachsen. Ziel: Mit den Menschen ins Gespräch kommen, jenseits der Metropolen und abseits des medialen Rampenlichts. „Wir wissen, dass die Menschen gerne gesehen und gehört werden, mit den Problemen, die jenseits der großen Ballungsräume andere sind“, erklärt Steinmeier.
Er Präsident nimmt sich Zeit. Knapp 80 Minuten dauert der Spaziergang vom Bahnhof zum Rathaus (Wegstrecke: circa ein Kilometer), vorbei an geöffneten Fenstern, winkenden Delitzschern, Händeschütteln, Selfies und Gesprächen. Im Musikshop von Matthias Letzel kauft er Jazzplatten, vor dem Imbiss posiert er mit Schülern für Fotos. „Schon ganz cool, dass der hier ist“, meint ein Zehntklässler. Beim Buchhändler Mathias Tandler sorgt Steinmeier für Heiterkeit, als er Harry Rowohlts Lesungsstil zitiert: „Schausaufen mit Betonung.“ Die Stimmung ist gelöst, der Präsident mittendrin.
Doch es bleibt nicht nur beim Smalltalk. In der Buchhandlung zeigt Steinmeier, dass sein Interesse an Literatur echt ist. Er blättert in Rowohlts „Pooh’s Corner“, kauft zweimal Thomas Mann – „Ich halte nämlich in zwei Wochen in Lübeck eine Rede zu seinem Geburtstag.“ Der Präsident nimmt Delitzsch ernst, hört zu, fragt nach. Auch kritische Stimmen kommen zu Wort: Eine Frau spricht ihn auf die AfD an, fordert mehr Demokratie durch Einbeziehung aller Parteien. Steinmeier bleibt ruhig: „Es gibt in dieser Partei einige, die die Demokratie angehen.“ Auf die Klage über zu viele Döner-Buden und Barbiere entgegnet er: „Fänden Sie es schöner, wenn die Läden leer stünden?“
In der Mittagssonne sitzt Steinmeier auch mit drei Friseurinnen des Salons La Belle. Den Laden gab es schon als PGH in der DDR. Die Mitarbeiterinnen berichteten vom Wandel des Geschäfts. Oberbürgermeister Wille meinte in lockerer Runde: „Hier bekommen sie ein Kaltwelle.“ Ein Angebot, das der Bundespräsident freilich nicht annahm. Der Rundgang endet am Markt, wo Steinmeier mit Oberbürgermeister Wilde eine Bratwurst genießt – umringt von Kameras und Bürgern. Ein frisch eingebürgerter Delitzscher aus Indien bittet um ein Selfie. Die Begegnungen sind herzlich, manchmal kontrovers, aber immer auf Augenhöhe.
Am Nachmittag folgt das kommunalpolitische Gespräch – hinter verschlossenen Türen. Vertreter aller fünf Stadtratsfraktionen und des Jugendparlaments bringen ihre Themen vor: kommunale Finanzen, Sanierungsbedarf der Artur-Becker-Oberschule, Familienfreundlichkeit und Geburtenrückgang, Freizeitangebote, mehr Transparenz und Akzeptanz. Steinmeier hört aufmerksam zu, signalisiert Verständnis. „Die Menschen bewerten die Demokratie auch nach der Lebensqualität direkt vor Ort“, betont er. Besonders die finanzielle Ausstattung der Kommunen, die Förderung von Engagement und die Schaffung von Begegnungsorten nimmt er als wichtigste Anliegen mit. Bedrohungen gegen Bürgermeister und Ehrenamtliche bereiten ihm Sorge: „Demokratie braucht Engagement.“ Die „Ortszeit“ bringt für Delitzsch Aufmerksamkeit, Austausch und das Gefühl, gesehen zu werden. Am heutigen Mittwoch stehen Besuche bei der Volksbank, mit regionalen Bürgergenossenschaften, dem künftigen Großforschungszentrum Center for the Transformation of Chemistry (CTC) und eine Diskussionsrunde mit Feuerwehrleuten und anderen Engagierten an. Am Donnerstag folgen Treffen im Nachbarschaftstreff und bei RailMaint, bevor Steinmeier im Barockschloss engagierte Bürger mit dem Verdienstorden ehrt.
Delitzsch ist die fünfzehnte Station der „Ortszeit Deutschland“ und die zweite in Sachsen nach Freiberg. Steinmeiers Besuch zeigt schon am ersten Tag: Demokratie lebt vom Dialog – und davon, dass das Staatsoberhaupt auch dorthin kommt, wo nicht immer das Scheinwerferlicht brennt.