Was können sich Kommunen leisten?
Der Rücktritt von Mittelsachsens Landrat Dirk Neubauer löste eine weitere Debatte in Sachsen aus. Es geht um die Finanzen in der Kommunalpolitik. Welchen Spielraum haben Kreise, Städte und Gemeinden – um das Leben am Laufen zu halten?
Es ist der politische Paukenschlag dieser Woche in Sachsen: Dirk Neubauer (parteilos), der Landrat von Mittelsachsen, wirft hin. Nach nur zwei Jahren im Amt. Als Gründe nennt der 53-Jährige ein ganzes Konglomerat: ständige Bedrohungen durch Rechtsextreme, mangelnde Unterstützung insbesondere aus dem konservativ geprägten Kreistag – und zu wenig Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen, die unter immer größeren finanziellen Schwierigkeiten ächzen.
Die Frage ist: Hat Neubauer mit all dem recht? Tatsächlich wurde der Familienvater häufig bedroht, sowohl auf Internet-Plattformen als auch auf der Straße und vor seinem Wohnhaus. Häufig waren es die rechtsextremen „Freien Sachsen“, die hinter solchen Aktionen standen und nun seinen Rückzug feiern.
Blockade-Mehrheit gegen Neubauer im Kreistag
Richtig ist auch: Im Kreistag hatte es Neubauer nicht gerade leicht. Die beiden stärksten Kräfte, CDU und AfD, ließen ihn regelmäßig auflaufen. Auch weil der Landrat mitunter wenig diplomatisch vorging. Beide Seiten fanden Gefallen daran, sich gegenseitig die Schuld dafür zuzuschreiben. Aufgelöst wurde dieser Konflikt nie. Im neuen 98-köpfigen Kreistag, der bei der Kommunalwahl im Juni gewählt wurde, haben AfD (30 Sitze) und CDU (26 Sitze) für die nächsten fünf Jahre zusammen eine klare Mehrheit. Es ist diese Blockademöglichkeit, die Neubauer in seinen Abschiedsworten ebenfalls angesprochen hat.
Wer sich dieser Tage bei Kommunalpolitikern im Land umhört, findet dennoch wenig Verständnis für seine Entscheidung. Der Landrat gilt als unbequem, im positiven wie im negativen Sinn. Öffentlich äußern will sich von den Kolleginnen und Kollegen aus den Rathäusern kaum jemand zu der Personalie. Doch das Anforderungsprofil wird bildlich beispielsweise so umschrieben: Man müsse ein Ackergaul sein, mit Durchhaltevermögen – und kein Rennpferd, dem nach einem Spurt schnell die Puste ausgeht.
Dagegen wird Anita Maaß, die Bürgermeisterin von Lommatzsch (Kreis Meißen) und FDP-Landeschefin, deutlich: Sie verweist auf das Wesen der Demokratie, das Neubauer in seinen Büchern beschreibe. „Jeder von uns hat schon erlebt, dass man nicht immer das durchbekommen hat, was man gern haben wollte“, sagt Maaß. „Wenn deswegen jeder von uns das Handtuch werfen würde, wären Landratsämter und Rathäuser leer.“ Notwendig seien Politiker „mit Sachverstand, Beharrlichkeit und Lenkungswillen“.
Doch wie groß ist der Handlungsspielraum für Kommunen überhaupt noch? Auch das ist ein wesentlicher Punkt von Neubauer. Im LVZ-Interview hat der scheidende Landratkritisiert: „Ich sehe eine große Schieflage: Wir sind in weiten Teilen nicht mehr handlungsfähig in den Kommunen, auch finanziell.“ Hinzu kämen „strukturelle Probleme, die ich als Landrat nicht lösen kann“.
Die Kritik wird damit grundsätzlich. Neubauer zielt auch auf die chronisch klammen Kassen der Kreise, Städte und Gemeinden. Allein für die zehn Kreise hat Henry Graichen (CDU), Präsident des Sächsischen Landkreistages und Landrat im Kreis Leipzig, das Defizit auf 833 Millionen Euro beziffert. Eine Ursache seien „die stetig wachsenden Sozialkosten“, etwa wegen der neuen Wohngeld-Regelung des Bundes.
Erst im Juni standen die Verhandlungen mit der Landesregierung über die Kommunalfinanzen kurz vor dem Scheitern. Das Finanzministerium sprach von einem „öffentlichen Druck“ und davon, dass für den Doppelhaushalt 2025/26 auch Maß gehalten werden müsse. Im letzten Moment gab es eine Einigung auf insgesamt 325 Millionen Euro – plus Investitionspauschale von 82 Millionen Euro.
„Notwendig ist in einem weiteren Schritt eine dauerhafte strukturelle finanzielle Entlastung der Kreisebene“, machte Graichen danach allerdings klar. Der neue Landtag und die neue Staatsregierung müssten nach der Wahl am 1. September „die Sicherung der finanziellen Stabilität der kommunalen Ebene“ dringend angehen.
Professor Thomas Lenk, der an der Universität Leipzig das Institut für öffentliche Finanzen leitet, bestätigt diese Forderung: „Der aktuelle Kompromiss kann nur als Übergangslösung gesehen werden. Den schwachen Einnahmen steht in den Kommunen ein ungebremstes Ausgabenwachstum – insbesondere aufgrund der Ukraine-Lasten, im Sozialbereich und bei notwendigen Investitionen – gegenüber.“ Die Kommunen befinden sich demnach in einer „äußerst angespannten finanziellen Lage“. Zumal sie ihre Einnahmen etwa mittels Gewerbe- und Grundsteuern nicht noch weiter erhöhen könnten. Deshalb müsse in der nächsten Legislatur eine grundlegende Neuordnung angegangen werden.
„Verglichen mit den anderen Bundesländern – ohne die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg – ist eine geringere finanzielle Ausstattung der sächsischen Gemeinden und Landkreise zu beobachten“, erklärt Lenk. Die „Arbeitsteilung“ bei den Aufgaben sei zwischen Freistaat und Kommunen unausgewogen. Außerdem hätten sich die Zuweisungen vom Land in den vergangenen Jahren „eher schwach“ entwickelt.
Dabei stehen die Kommunen sozusagen an vorderster Front. Schließlich wird hier über vieles entschieden, was viele Menschen berührt und vor ihrer Haustür passiert. Grob gesagt, geht es etwa um Schulbauten und Kindergärten, Bebauungspläne und Gewerbeflächen, Kultur- und Freizeitangebote, aber auch um Müllabfuhr und Abwasserbeseitigung.
„Was den Bürger beschäftigt, ist das alltägliche Leben: Fährt der Bus, funktioniert die Schule, sind die Straßen in Ordnung? Das wird alles in Zukunft noch schwieriger“, formuliert Dirk Neubauer seine Kritik.
Der Leipziger Politikwissenschaftler Hendrik Träger macht die Tragweite klar: „Die Kommunen sind eine sehr wichtige politische Ebene, vielleicht sogar die wichtigste überhaupt. Die Kommunalpolitik ist am dichtesten an der Bevölkerung dran.“ Auch deshalb dürfe die „große Politik“ den Engagierten vor Ort das Leben nicht unnötig schwer machen.
Ein Beispiel ist der Bürokratieabbau, der regelmäßig von der Bundes- und der Landespolitik angekündigt wird. Oder besser noch, die Vereinfachung von Förderrichtlinien. In Sachsen hatten CDU, Grüne und SPD bereits 2019 in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben: „Wir setzen uns für einfache, bürokratiearme Förderverfahren ein und nutzen die Möglichkeiten der Digitalisierung.“ Passiert ist seither nichts Grundsätzliches, selbst wenn das Finanzministerium auf gewisse Vereinfachungen – etwa eine bestimmte „Förderunschädlichkeit“ und reduzierte Nachweispflichten – sowie Modernisierungen verweist.
Der Sächsische Städte- und Gemeindetag (SSG) hat ausgerechnet, dass Antragsteller vor fünf Jahren unter 330 Förderrichtlinien, Programmen und Geldtöpfen wählen konnten. Das war schon damals bundesweit ein Spitzenplatz. Nun seien geschätzt 40 neue Möglichkeiten für Zuschüsse hinzugekommen.
„Es ist alles noch viel kleinteiliger geworden“, moniert Verbandspräsident Bert Wendsche (parteilos), der Oberbürgermeister von Radebeul (Kreis Meißen). Er spricht von „Gängelei“ und bekennt: Aufgrund dieser Masse an Programmen sei es in den Städten und Gemeinden unmöglich, den Überblick zu behalten und alles bearbeiten zu können. „Bei Stadt- und Gemeinderäten hat sich das Gefühl breitgemacht, dass eigentlich alles von Dresden vorgegeben wird“, erklärt Wendsche. „Was wir aber brauchen, ist mehr Vertrauen in die Akteure vor Ort, wie es etwa in den 1990er-Jahren war.“
Deshalb fordert der Verband, dem 416 Städte und Gemeinden angehören, ein kommunales Freiheitsgesetz. Nur so könnten die Kommunen wieder die Luft erhalten, die sie zum Atmen dringend benötigten. Auch mit Blick auf die Wahl warnt der SSG: Entmündigung führe letztlich zu mehr Frustration.
Matthias Berger, Oberbürgermeister von Grimma (parteilos, Kreis Leipzig), ist konsterniert: „Wir sind zu Bittstellern degradiert worden, die jeden Spielraum verloren haben. Ich sehe Kommunen, die nichts mehr gestalten können.“ Das hört sich ähnlich wie bei Mittelsachsens Landrat an. Berger bemängelt wie viele andere seiner Kolleginnen und Kollegen eine „strukturelle Unterfinanzierung der Kommunen“.
Daraus hat er für sich – anders als etwa Neubauer – die Konsequenz gezogen, nach 23 Jahren als Stadtoberhaupt nun bei der Landtagswahl als Spitzenkandidat der Freien Wähler anzutreten. Sollte er gewählt werden, will sich Berger in die Landespolitik einmischen.
Neubauer hat angekündigt, nach einer Auszeit als Berater in der Wirtschaft arbeiten und sich „vermutlich“ weiter mit dem Bereich der erneuerbaren Energien beschäftigen zu wollen. Mit dem Kampf um politische Mehrheiten will er sich vorerst nicht mehr aufhalten. Zunächst müsse in Mittelsachsen aber ein neuer Landrat oder eine Landrätin gewählt werden – so lange wird Neubauer noch im Amt bleiben.