Was kommt nach dem 365-Euro-Jahresticket?

LVZ, Delitzsch-Eilenburg, A. Tappert

Wien verteuert andere Fahrscheine, das Parken und die Bußgelder.

In der Leipziger Stadtpolitik wird hitzig über die Einführung eines 365-Euro-Jahrestickets gestritten. Das Ticket kann von Fahrgästen wie eine ÖPNV-Flatrate von einem Euro pro Tag genutzt werden – also einem äußerst günstigen Preis (die LVZ berichtete). Doch was geschieht nach der Einführung dieses Fahrscheins? Nahverkehrsexperten versuchen inzwischen fundierte Antworten auf diese Frage zu geben. Sie kommen zu überraschenden Ergebnissen.

So hat das Berliner ÖPNV-Beratungsunternehmen Civity Management Consultant eine Studie herausgegeben, die die Folgen des im Jahr 2012 in Wien eingeführten 365-Euro-Jahrestickets untersucht. Auch für die estnische Hauptstadt Tallinn liegen Forschungsergebnisse vor; dort wurde vor einiger Zeit sogar ein kostenfreier Nahverkehr für Einwohner eingeführt, um den motorisierten Individualverkehr zu reduzieren.

Während die Einwohner in Tallinn nichts für den Nahverkehr zahlen, müssen Einpendler und Touristen inzwischen das Doppelte des früheren einheitlichen Ticketpreises entrichten – statt 80 Cent jetzt 1,60 Euro. Gleichzeitig sind die Anmeldungen zum Hauptwohnsitz dort deutlich gestiegen – die Stadt konnte so die mit 232 Millionen Euro bezifferten Fahrgeldausfälle durch höhere Steuereinnahmen auffangen.

Das ÖPNV-Defizit
wächst weiter

In Wien hat die Einführung des 365-Euro-Tickets die Zahl der Jahreskarteninhaber von rund 350 000 auf über 800 000 Abonnements steigen lassen. Damit besitzt jetzt jeder zweite Hauptstadtbewohner ein 365-Euro-Ticket. Oliver Mietzsch, Geschäftsführer des Zweckverbandes für den Nahverkehrsraum Leipzig (ZVNL), wundert sich. Denn: Der Anteil des Nahverkehrs am Gesamtverkehr sei in Wien gar nicht wesentlich gestiegen – wenn man als bereinigende Effekte das
größere Angebot und das allgemeine Marktwachstum berücksichtige. Und: Zugleich hätten die Wiener Linien als öffentliche Verkehrsunternehmen Mindereinnahmen in Höhe von rund 50 Millionen Euro jährlich. Diese Ergebnisse hat Mietzsch jetzt in einer Analyse für die Fachpublikation „Verkehr und Technik“ veröffentlicht. Das günstige Ticket hat also nach seiner Einführung nicht
so viele zusätzliche Autofahrer zum Umsteigen auf den Nahverkehr bewogen, wie bei seiner Einführung erhofft. Nur im Jahr der Umstellung gab es einen Schub für die ÖPNV-Nutzung, was vor allem an den begleitenden Einschränkungen für den Autoverkehr gelegen haben könnte. Das heißt: Während sich die Wiener von den Vorteilen des 365-Euro-Jahrestickets haben überzeugen lassen, scheinen die Pendler dem Auto treu zu bleiben. Experten betonen, dass zu den Mindereinnahmen jährlich nicht unbeträchtliche Lohnerhöhungen der Mitarbeiter im ÖPNV und steigende Kraftstoffpreise hinzugerechnet werden müssen.

Sofern allerdings der Bund – wie aktuell in Leipzig diskutiert – Kosten für die notwendige Angebotsausweitung und Einnahmeausfälle der Verkehrsunternehmen übernehmen würde, ließe sich ein solches Vorhaben schon eher angehen. Allerdings bräuchte es dann eine langfristige Finanzierungszusage, weil sich die erhofften positiven Effekte wohl nicht in kurzer Zeit einstellen werden. Bei dem aktuell für Leipzig diskutierten dreijährigen Modellprojekt müsste die Stadt sonst nach spätestens drei Jahren die Kosten alleine tragen.

Städte wie das belgische Hasselt oder das brandenburgische Templin – die einen kostenfreien Nahverkehr eingeführt haben – werden in der Analyse von ZVNL-Chef Mietzsch sogar als „Opfer des eigenen Erfolgs“ bezeichnet. Denn dort sind die Nutzerzahlen des öffentlichen Nahverkehrs derart in die Höhe geschnellt, dass die Städte aus finanziellen Gründen mit der Angebotsverdichtung nicht hinterherkamen und den kostenlosen Nahverkehr wieder abgeschafft haben.

Um die finanziellen Lasten des 365-Euro-Tickets schultern zu können, hat die Stadt Wien parallel zur Einführung eine deutliche Verteuerung in fast allen anderen Tarifsortimenten vorgenommen – insbesondere im Bereich der Gelegenheitskunden. Gleichzeitig wurde die Anzahl der bewirtschafteten Parkraumflächen um rund 150 Prozent ausgeweitet und so die damit erzielten Einnahmen um 56 Prozent gesteigert. Auch die erhöhten Beförderungsentgelte für Schwarzfahrer wurden deutlich angehoben, ebenso die Bußgelder für Falschparker.

Zusätzlich bitten die Wiener noch andere Gruppen für ihr 365-Euro-Ticket zur Kasse. So zahlt dort jeder Arbeitgeber einen Betrag pro Mitarbeiter und Arbeitswoche für die ÖPNV-Anbindung. Das Aufkommen aus dieser Abgabe hat sich inzwischen verdoppelt, haben Wissenschaftler herausgefunden. „In Deutschland wäre eine solche Sonderabgabe finanzverfassungsrechtlich unzulässig, da nachgewiesen werden müsste, dass die Arbeitgeber als Gruppe einen größeren Nutzen aus einer guten ÖPNV-Anbindung ziehen als andere Bevölkerungsgruppen“, schreibt Mietzsch in „Verkehr und Technik“. Dieser Nachweis sei aber „praktisch unmöglich“.

Das Land müsste
das Abgabengesetz erweitern

Für möglich halten Verkehrsexperten aber „die Einführung von Beiträgen für die schienengebundene ÖPNV-Infrastruktur in Städten oder generell den verbilligten ÖPNV-Betrieb“. Beitragspflichtig wären dann entweder die Anlieger von neu oder ausgebauten Straßen-, Stadt- oder U-Bahnen, die einen objektiv messbaren Vorteil aus der verbesserten ÖPNV-Erschließung haben, oder alle Einwohner einer Stadt, die im Gegenzug Busse und Bahnen zu geringeren Fahrpreisen oder sogar kostenfrei nutzen könnten. Allerdings müsste dafür vom Land das Kommunale Abgabengesetz erweitert werden, da der ÖPNV bislang nicht als beitragsfähige Anlage gilt – wie zum Beispiel Straßen oder Abwasserleitungen.