„Das Pisa-Problem ist hausgemacht“

LVZ Delitzsch-Eilenburg

Christoph Wittwer ist Leiter einer Kindertagesstätte in Grünau: Kinder und Familien in prekären Situationen bekommen keine Chancengleichheit in der Bildung

Verwundert ist Christoph Wittwer keineswegs. Das katastrophale Ergebnis von Schülern in Deutschland beim internationalen Bildungsvergleich Pisa sieht der Leiter einer Leipziger Kindertagesstätte als „logische Konsequenz aus dem Abbau sozialer Leistungen“ auf sozialem Terrain. „Das Problem ist hausgemacht.“ Die Bildungskluft beginne im Vorschulalter und müsse dringend geschlossen werden.

Mit den Auswirkungen ungleicher Chancen sind Wittwer und sein Team täglich konfrontiert. Die Kita „Um die Welt“ in Leipzig-Grünau, im vergangenen Jahr für den Deutschen Kita-Preis 2023 nominiert (über die „Initiative Kunterbunt“), besuchen fast ausschließlich Kinder, die in finanziell prekären Verhältnissen aufwachsen und gegenüber anderen benachteiligt sind.

Ausgelaufenes Sozialprogramm

„Es ist fatal, dass gerade hier in Grünau-Nord stark benötigte Sozialräume geschlossen und Programme beendet worden sind“, sagt der 51-Jährige. Ein Beispiel: Ende 2022 lief das Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ aus, das Mädchen und Jungen mit alltagsintegrierter Bildung früh in ihrer Sprachentwicklung unterstützt. Schon als sich das Ende angekündigt hatte, warnte Wittwer vor „verheerenden Folgen“.

Auch wenn das dieses Jahr in Kraft getretene „Gute-Kita-Gesetz“ sprachliche Förderung auf dem Papier einschließt, ist sie laut Wittwer kaum zu leisten, „weil die entsprechende Stelle wegfiel und das Personal das unmöglich wettmachen kann“. Der Kindheitspädagoge kritisiert: „In einem Stadtteil wie diesem ist die Armut weitverbreitet. Sie vererbt sich ebenso wie die Chancenungleichheit im Vergleich zu Kindern aus bessergestellten Familien.“

Alarmierende Zahlen

Der Kita-Leiter beruft sich auf Zahlen der Stadt Leipzig von 2022, die die Problematik in Grünau-Nord skizzieren: mehr als 8 Prozent Arbeitslosenanteil (insgesamt liegt Leipzig bei 4,9), 24 Prozent Grundsicherungsanteil (insgesamt 10,4), 30 Prozent Anteil der Sozialgeldempfänger unter 15 Jahren (14,8). Mit Blick auf Pisa führt Wittwer vor allem den Anteil der Schulabgänger von Oberschulen an, die nicht einmal einen Hauptschulabschluss haben: „Wir sprechen von 15 bis 20 Prozent. Und dann wundert sich noch jemand über das verheerende Studien-Ergebnis?“

Angaben, die für überforderte und belastete Familien stehen, „für die es in Grünau-Nord kein umfängliches, niederschwelliges und wohnortnahes Beratungs- und Unterstützungsangebot gibt“. Aus diesem Grund und wegen hoher bürokratischer Hürden würden Eltern häufig Anträge auf soziale Leistungen nicht auf den Weg bringen. „Sie werden alleingelassen“, so Wittwer, „damit ist soziale Teilhabe nicht möglich.“

„Stadt muss weg vom Gießkannenprinzip“

Ende Januar 2024 soll das für Grünau ins Leben gerufene und vom Jobcenter finanzierte Programm „Stark für Dich“ auslaufen – ein Unterstützungsangebot zur Bearbeitung individueller Problemlagen, Stabilisierung des Familiensystems und Stärkung von Alltagskompetenzen.

„In den eineinhalb Jahren wurden definitiv Erfolge verzeichnet“, so Wittwer. „Wird das Programm nicht verlängert, ist der Sozialraum weg, und das Mitarbeiterteam muss aufgelöst werden.“ Doch ersatzweise Mittel über die Kinder- und Jugendförderung zu beziehen, ist laut Jugendbürgermeisterin Vicki Felthaus (Grüne) „im laufenden Doppelhaushalt nicht möglich, da alle Mittel vergeben sind“. Zudem entspreche die Maßnahme nicht den Vorgaben der Kinder- und Jugendförderung.

Felthaus ergänzt, dass die als Standard geltenden drei Familienbildungsangebote pro Planungsraum in Grünau erreicht seien, während woanders noch deutlicher Aufholbedarf bestehe. Wittwer kritisiert: „Damit verschließt die Stadt die Augen vor der Realität. Sie muss weg vom Gießkannenprinzip. Schwerpunkte müssen in besonders schwierigen Gebieten gesetzt werden.“

Defizit in Grünau und Paunsdorf ausgeprägt

Weil finanziell Schwache seit Jahren in Stadtteilen wie Grünau und Paunsdorf abgedrängt würden und nicht mehr Teil einer heterogenen Gesamtgesellschaft seien, würde das Bildungsdefizite hier besonders spürbar. Viele Eltern würden das Kita-Angebot aus Überforderung und Unkenntnis nicht nutzen. Oder auch, weil Familien pro Monat die 150 Euro Landeserziehungsgeld vorziehen, da diese Zahlungen nicht auf andere Sozialleistungen angerechnet werden. „Die Schere zwischen Benachteiligten und Privilegierten wird immer größer, und die geht in den ersten Jahren auf.“

Gestützt werden solche Aussagen von einer bundesweiten Kooperation der Kita-Fachkräfteverbände. „Chancengerechtigkeit muss in der Kita beginnen“, heißt es in einer Stellungnahme. Seit 2008 kritisiere der Ländermonitor der frühkindlichen Bildungssysteme, dass die Schwellenwerte für entwicklungsförderliche Bedingungen in den meisten deutschen Kindertagesstätten nicht annähernd erreicht würden.

Die Situation in Leipzig-Grünau sieht Christoph Wittwer an einem Kipppunkt. „Wir haben zu viele soziale Härtefälle und trotzdem denselben Personalschlüssel wie alle Einrichtungen. Das geht so nicht weiter.“

Der Sozialarbeiter der Kita „Um die Welt“ hat in diesem Jahr Buch über Hilfebedarfe geführt, die weit über den Aufgabenbereich einer Kita hinausgehen: 193-mal fragten demnach Menschen nach gemeinsamer Bearbeitung von Schuldenproblematik, 66-mal ging es um Sprachvermittlung, 53-mal um Beratungen in familiären und erzieherischen Belangen. Wittwer dazu: „So gern wir helfen würden – wir können das nicht leisten. Eine Kita ist eine familienergänzende Einrichtung, keine Sozialstation.“

„Pisa-Desaster ist eine logische Folge“

Das Fazit des Kita-Chefs: Die Armut wächst, die sozialen Angebote schrumpfen – und das Pisa-Desaster ist die logische Folge. Christoph Wittwer betont, es sei höchste Zeit, das Ruder herumzureißen. „Die ersten Lebensjahre eines Kindes sind prägend. Was hier versäumt wird, ist schon in der Grundschule nicht mehr leicht aufzuholen. Wir erleben hier jeden Tag, was das bedeutet.“