Ein Zwischenruf zum Einheitsfest

Dr. Michael Friedrich

Festreden zur zwanzigsten Wiederkehr des Einheitstages haben dieser Tage Konjunktur. So war auch bei Landrat Czupalla unlängst im Bad Dübener Heide spa die Tonlage die übliche: Was hinter uns liege, sei eine einzige und einzigartige Erfolgsgeschichte. In Sachsen blühten die Landschaften, wenn auch nicht immer und überall, so doch prinzipiell und grundsätzlich. Überhaupt stehe Deutschland als Ganzes in Europa und in der Welt glänzend da.

Festreden zur zwanzigsten Wiederkehr des Einheitstages haben dieser Tage Konjunktur. So war auch bei Landrat Czupalla unlängst im Bad Dübener Heide spa die Tonlage die übliche: Was hinter uns liege, sei eine einzige und einzigartige Erfolgsgeschichte. In Sachsen blühten die Landschaften, wenn auch nicht immer und überall, so doch prinzipiell und grundsätzlich. Überhaupt stehe Deutschland als Ganzes in Europa und in der Welt glänzend da. Wer das verkenne, sei ein Miesmacher, mindestens aber ein Nörgler, der nur ganz volle oder ganz leere Gläser akzeptiere. Soweit die Quintessenz der Czupalla-Rede, die einen Zwischenruf verdient.  

Ja, vieles hat sich positiv entwickelt. Für mich ist es undenkbar, auf individuelle Freiheiten, neue persönliche Verantwortung  und unabhängige politische Meinungsäußerung zu verzichten, die ich seit über 20 Jahren in der Politik selbst kräftig wahrnehme. In der DDR wäre ein solches Wirken als Oppositionspolitiker schlicht nicht vorstellbar gewesen. Die heutige Vielfalt des Warenangebots und der Reisemöglichkeiten sind unbestreitbar. Der gefährliche Substanzverzehr im Städtebild und in der Industrie der DDR wurde beendet, eine moderne Infrastruktur aufgebaut und gravierende Umweltprobleme bewältigt. Vor allem bin ich froh, dass seit zwei Jahrzehnten die unheilvolle militärische Konfrontation inmitten Deutschlands der Vergangenheit angehört. Kein vernünftiger Mensch kann sich ernsthaft die DDR mit ihrer allgegenwärtigen Bevormundung und Provinzialität im Denken, ihrer niedrigen Arbeitsproduktivität und Missachtung der Umwelt oder gar die „Systemauseinandersetzung“ zwischen Warschauer Pakt und NATO zurück wünschen.

Wäre es aber nicht angemessen gewesen, gerade in einer Rede zum 20.Jahrestag der Wiedererlangung der Einheit auf einige gravierende Defizite zu verweisen, die die Menschen gerade auch in unserem Landkreis bewegen und die dazu angetan sind, Ost und West weiter gegeneinander auszuspielen?

Laut ZDF-Politbarometer sehen 60 Prozent der Westdeutschen die Ostdeutschen als Gewinner der Einheit – im Osten hält sich dafür aber nur ein Viertel. Wie kommt diese enorme Differenz zustande?

Der mutwillige Bruch vieler ostdeutscher Biografien mitsamt Degradierung der im Osten erworbenen Bildungsabschlüsse ist dafür eine der Ursachen, wie Bundesinnenminister de´Maiziere unlängst selbstkritisch bekannte. Ohne die geringste Veränderungsbereitschaft im Westen wurde das dortige Rechts- und Verwaltungssystem, in vielerlei Hinsicht selbst stark reformbedürftig, einfach  1 : 1 dem Osten übergestülpt. Ohne Not wurden die hiesigen Eliten fast vollständig ausgetauscht und ihre Berufsabschlüsse missachtet. Dafür wurde so manch einem westlichen „Glücksritter“ der Teppich ausgerollt.

Erinnert sei weiter an den ruinösen Wechselkurs bei der Einführung der D-Mark, der ganz wesentlich zum schnellen Aus vieler, durchaus nicht nur maroder ostdeutscher Betriebe und zu hoher Arbeitslosigkeit beigetragen hat. Erinnert sei vor allem an den falschen Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ und an den frevelhaften Umgang mit DDR-Volkseigentum durch die Treuhand. Deren  fieberhafte Privatisierung nutzte vor allem der westdeutschen Konkurrenz und war nichts anderes als Vermögensraub in dreistelliger Milliardenhöhe an der ostdeutschen Bevölkerungsmehrheit. Generell ist das ruinöse Treuhand-Wirken bis heute nicht einmal ansatzweise aufgearbeitet und verbirgt so noch manches Betrugskapitel. Bei aller gebotenen Dankbarkeit gegenüber den westlichen Geberländern muss auch an diese Tatsachen erinnert werden, die maßgeblich für die hohe Sockelarbeits-losigkeit in den östlichen Bundesländern mitverantwortlich sind.

Laut jüngstem Jahresbericht der Bundesregierung zur Deutschen Einheit gab es im Juli 2010 in den östlichen Bundesländern rund 1,6 Mio. ALG-II-Beziehende, darunter rund 600.000 Menschen, die trotz Arbeit nicht genug zum Leben verdienten. Auch in unserem Landkreis sind rund ein Drittel der knapp 21.000 Menschen in „Bedarfsgemeinschaften“ so genannte Aufstocker. Es ist ein politischer Skandal, dass niedrigste Entlohnung mit notwendiger staatlicher Alimentierung im zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit überhaupt vorkommt, und es ist ein erst recht ein Skandal, dass diese Praxis zwischen Elbe und Oder weitaus verbreiteter ist als zwischen Elbe und Rhein.

Angesichts der Jubelbotschaften zum Jahrestag müssen sich gerade die HARTZ-IV-Beziehenden verschaukelt vorkommen. Sie bekommen ein Almosen im Wert einer Flasche Fusel und sollen dafür auch noch dankbar sein. Die mageren 5 Euro gleichen nicht einmal den Kaufkraftverlust aus, der zwischen 2003 und 2008 bei etwa 20 Euro liegt. Das „Angebot“ der Bundesregierung ist daher faktisch eine Absenkung des Standards. Besonders beschämend ist, dass die Leistungen für Kinder und Jugendliche unverändert bleiben. Die vermeintliche Großtat des „Bildungs- und Teilhabepakets“ wird bei genauerer Betrachtung über die Kürzung des Elterngeldanspruchs für HARTZ-IV Leistungsberechtigte finanziert. Mit Tricks und Manipulationen hat die Bundesregierung so lange gerechnet, bis das politisch gewünschte Ergebnis da war. Das Resultat ist eine Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich, wofür letztendlich auch die kommunalen Kassen in Anspruch genommen werden. In unserem Landkreis sind die stetig steigenden Sozialausgaben bei gleichzeitig sinkender Bevölkerungsanzahl ein trauriger Beleg dafür.

Letztendlich aber geht es um viel mehr als um die Frage, ob ein Zuschlag von 20 oder von 50 Euro zum HARTZ-IV-Regelsatz angemessen gewesen wäre. Vergegenwärtigt man sich die immer weiter um sich greifende Ausweitung  des Niedriglohnsektors, die Aushöhlung des Solidarprinzips bei den gesetzlichen Krankenkassen, die Einführung der Rente mit 67 oder die brutale Durchsetzung der Lobbyinteressen von Hoteliers, Privaten Krankenkassen, Pharma- und Atomindustrie durch Schwarz-Gelb, so stellt sich die Frage, ob Deutschland Vorreiter von Sozialabbau in Europa werden will oder bereits ist. Offenkundig steht die Wirtschaft nicht mehr im Dienste des Gemeinwohls sondern des Profits. Der Mensch ist nicht mehr Ziel und Zweckbestimmung der Wirtschaft, sondern er muss sich nur noch rechnen. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden! Trotz Globalisierung und Wettbewerbsdruck, die nicht in Abrede gestellt werden können, muss sich die Wirtschaft – und nicht nur die Finanzwirtschaft! – wieder dem Gemeinwohl unterordnen. Das ist die zentrale Aufgabe der Politik!

Ich bedauere, dass Landrat Czupalla kein einziges Wort zu diesen verhängnisvollen Entwicklungen und der erforderlichen Gegenwehr verloren hat. Als oberster Repräsentant unseres Landkreises hat er damit eine große Chance vertan.

Dr. Michael Friedrich

Fraktionsvorsitzender