Im günstigen Fall ein kontrollierter Kollaps

LVZ, Delitzsch-Eilenburg

Der Personalmangel trifft den sozialen Sektor besonders hart – Eine neue Studie warnt vor dem Zusammenbruch ganzer Strukturen

Die Arbeit im sozialen Sektor ist enorm und gesellschaftsrelevant. Rund drei Millionen Menschen haben dort nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarktforschung (IAB) und des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) zuletzt sozialversicherungspflichtig gearbeitet – verglichen mit etwa 800 000 Beschäftigten in der Autoindustrie.

„Die Zahlen werden nicht mehr stark steigen“, sagt DRK-Experte Joß Steinke mit Blick auf Sozialjobs. Das gelte, obwohl der Bedarf erheblich zunehme. Er und seine Kollegen wären in einigen Fällen schon froh, wenn mancher soziale Dienst nur einigermaßen kontrolliert zusammenbrechen würde.

Die gemeinsame Studie von DRK und IAB zeichnet ein düsteres Bild. Von schlechter Bezahlung über großen Arbeitsstress bis zu überaltertem Personal führen demnach viele Faktoren dazu, dass im deutschen Sozialsektor bald weiße Flecken drohen. Nicht nur in den bekannten Problembereichen wie Pflege oder Kindertagesstätten drohe ein Debakel. „Über Migrationsberatung oder Schulsozialarbeit wird selten oder nie gesprochen“, kritisiert Steinke. Aber auch dort wüchsen die Personalsorgen rapide. „Es geht um den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, meint der DRK-Experte.

Wie stark der Bedarf an sozialen Diensten aller Art wächst, zeigt die Entwicklung der Beschäftigung. 2,1 Millionen bezahlte Sozialjobs wurden 2011 in Deutschland gezählt. Eine Million ist seitdem dazugekommen. Aber selbst das reicht heute schon nicht mehr. Von 2012 bis 2022 habe sich der Anteil der im Sozialbereich tätigen Betriebe, die Probleme bei der Personalsuche haben, auf 40 Prozent fast verdoppelt, sagt IAB-Studienmacher Christian Hohendanner. Zugleich sei der Anteil der Beschäftigten zwischen 50 und 64 Jahren von 27 auf 37 Prozent gestiegen. „Wir haben eine enorme Alterung in Betrieben des sozialen Sektors“, sagt Hohendanner.

Eine Folge: Die Krankheits- und Fehlzeiten haben sich im sozialen Sektor binnen zehn Jahren verzweieinhalbfacht. Der parallele Personalaufbau wird dadurch stark relativiert. Die wachsende Arbeitslast provoziert Ausstiege. „56 Prozent aller Personalabgänge erfolgen durch Kündigung“, sagt Hohendanner. Im übrigen Arbeitsmarkt seien es nur 48 Prozent.

Den immer härteren Wettbewerb der Branchen um Fachkräfte drohe der Sozialsektor zu verlieren. „Es passiert wenig, wir schaffen es nicht, den Knoten zu zerschlagen“, beklagt Steinke. Das System sei auf Markt und Effizienz ausgelegt, was in vielen sozialen Berufen nicht funktioniere. Arbeitszeiten und Löhne seien dabei nicht das allein Ausschlaggebende. Aber beides werde oft auf politischer Ebene mitentschieden, wenn etwa Kommunen den finanziellen Rahmen für soziale Dienste vorgeben. Das könnten Betriebe dann nur weitergeben.

Eine Folge sei die vergleichsweise schlechte Bezahlung in dem Bereich. Denn für die Sozialjobs hat die Studie ein Care Pay Gap, also eine Lohnlücke im Vergleich zum Durchschnitt anderer Branchen, von 17 Prozent errechnet. Dabei erfasst wurden sogar nur soziale Vollzeitjobs.

Stellschrauben zum Aufbessern der Attraktivität gebe es viele, sagt DRK-Studienautorin Jasmin Rocha. Das seien nicht nur höhere Löhne, sondern zum Beispiel auch entfristete Beschäftigung oder verringerte Arbeitsbelastung mit weniger Schicht- und Wochenendarbeit. Viele Befragte hätten auch angegeben, regelmäßig angerufen zu werden, um für Kollegen einzuspringen. „Oft am Rande des Existenzminimums existieren, aber jederzeit verfügbar sein“, sei die gefühlte Realität vieler Sozialberufe. Das könne man ändern. „Dann sind aber zusätzliche Mittel notwendig“, sagt Rocha.

Sie und ihre Mitstreiter bezweifeln, dass die künftig fließen werden. Als Mindestmaßnahme fordern sie deshalb, die unweigerlich entstehenden weißen Flecken in der sozialen Versorgung per Meldestellen zu erfassen. So könne wenigstens ein unkontrollierter Zusammenbruch der Systeme verhindert werden. Wohin die Reise geht, sei aber klar. „In den nächsten Jahren werden deutlich spürbar Strukturen wegbrechen“, sagt Steinke.