„Wir dürfen den Menschen nicht vergessen“

Torgauer Zeitung

Wie arbeiten kleinere Krankenhäuser auf dem Land?Und welche Perspektive haben sie für die Zukunft angesichtsder angestrebten bundesweiten Krankenhausreform? Ein Besuch bei der Collm-Klinikin Oschatz und ihrem Chef Mario Günther.

Mario Günther hat gute Laune. Der Medizinische Geschäftsführer der Collm Klinik Oschatz hatte vor ein paar Tagen ein erfolgreiches Bewerbergespräch. Die Position des Leitenden Oberarztes der Chirurgie – seinem Stellvertreter – könnte bald neu besetzt sein. Der Kandidat hat Günther voll überzeugt. Zugleich sehe der Bewerber eine gute Perspektive an der Collm-Klinik, berichtet der Chefarzt. Wenn alles klappt, bekommt das Team also bald Verstärkung. Eine Nachricht der Zuversicht in unsicheren Zeiten, die die geplante bundesweite Krankenhausreform vielen der rund 1719 Kliniken in Deutschland beschert. Und ein personeller Coup, den sich viele der 76 Häuser in Sachsen wünschen würden.

Dr. Mario Günther, Jahrgang 1964, geboren in Wittenberg, studiert in Berlin, ist nach Stationen an der Charité und am Krankenhaus Wittenberg seit 2006 chirurgischer Chefarzt in Oschatz, seit 2013 auch Medizinischer Geschäftsführer. Auf die Berliner Pläne zum Umbau des deutschen Klinikwesens blickt er skeptisch. Doch in dem 175-Betten-Haus im Landkreis Nordsachsen warten sie nicht ab, was kommen mag. Zusammen mit Geschäftsführer Stefan Härtel dreht Mario Günther eine Schraube nach der nächsten, um das Haus durch die Krankenhausreform zu bekommen.

Mit der will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die ambulante Versorgung stärken sowie kleineren Häusern kompliziertere Behandlungen wegnehmen und an spezialisierte Zentren lenken, um die Qualität zu erhöhen. Die angespannte Finanzlage soll verbessert werden, indem die Einrichtungen mehr Geld für das reine Angebot von Leistungen erhalten – anstatt wie derzeit nur für durchgeführte Behandlungen. Damit will Lauterbach zugleich unnötige Operationen verhindern. Kernproblem: Deutschlands Gesundheitssystem ist eines der teuersten weltweit. Einen der Gründe dafür sehen Experten in den bundesweit 1719 Kliniken mit oft ähnlichen Angeboten. Sie alle suchen nun nach Nischen und Entwicklungsmöglichkeiten.

 

Die Fachkräftegewinnung nimmt dabei eine zentrale Position ein. Fehlendes Personal ist ein Problem, mit dem sich die meisten Kliniken herumschlagen. In der Pflege und auch mit Blick auf den ärztlichen Nachwuchs. Je ländlicher die Region, umso schwieriger wird es. An der Collm-Klinik geht diese Entwicklung nicht vorbei – mehrere Stellen sind zu besetzen. Auch aufgrund der politischen Diskussionen über die Zukunft kleiner Häuser hätten manche Mitarbeiter das Haus verlassen, räumt Günther ein. Die Versorgung habe das jedoch nicht gefährdet.

Die Personalsuche nimmt trotzdem viel Zeit in Anspruch. Dazu kommt: In den Leitungsrunden der Geschäftsführung müssen interne Prozesse immer wieder durchleuchtet, verbessert werden: Die Collm-Klinik gehört zwar nicht zu den insolvenzgefährdeten Häusern in Sachsen. Mit Finanzlücken durch ungenügenden Inflationsausgleich sowie unzureichende Investitionszahlungen hat sie aber genauso zu tun wie alle anderen. Dabei ist Günthers Arbeitstag schon so herausfordernd. Zehn, zwölf Stunden dauert der im Schnitt. Besprechungen, Visiten, Tumor-Konferenzen, Sitzungen der Ethik-, Hygiene- und Arzneimittelkommission, Hintergrund-Bereitschaftsdienste. Im OP steht der Facharzt für Allgemein-, Gefäß- und Viszeralchirurgie natürlich auch regelmäßig.

Und dann sind da noch seine Sprechstunden. Eine endete neulich nicht wie geplant um 15, sondern erst gegen 17.30 Uhr. Das kommt immer mal wieder vor, denn von Mario Günther wissen viele Patienten, dass er sich die Zeit nimmt, die nötig ist. „Danke, dass Sie mir zugehört haben“ – diesen Satz hört er häufiger, erzählt Günther. „Dieser Bedarf ist da, das gibt vielen Patienten Sicherheit. Und das mache nicht nur ich so. Einen Patienten in einer emotional schwierigen Situation hast Du nicht in zehn Minuten durchgewunken.“ Honoriert wird eine solche individuelle Zuwendung im aktuellen Finanzierungssystem nicht.

Mario Günther sieht sein Haus nicht nur als Klinik im engeren Sinn: „Wir kompensieren soziale Defizite unserer Gesellschaft.“ Wenn es Engpässe in der ambulanten Pflege oder Probleme bei der Wundversorgung gibt – das Krankenhaus ist immer da. Auch die 89-Jährige, die gerade in der Notaufnahme behandelt wird, wurde auf kurzem Wege vom Hausarzt angekündigt – jetzt kümmert sich Assistenzarzt Illija Petrushev um ihre Verletzung am Unterschenkel. Die demenzkranke Frau war in ihrer Wohnung gestürzt, Iris Otto vom Oschatzer Pflegedienst Ihm hat sie in die Collm-Klinik begleitet, weil die Patientin dort tagsüber betreut wird. Ohne diese Begleitung wäre die Behandlung sehr viel komplizierter geworden: Die Pflegekoordinatorin ist für die Frau eine wichtige Bezugsperson, Anker und Ruhepol. Müsste die Dame aber nach Riesa oder Leipzig in die Klinik – Iris Otto könnte sie nicht begleiten. Die unkomplizierte Zusammenarbeit, das Vertrauen und die kurzen Drähte zum Krankenhaus vor Ort seien unersetzbar, sagt Otto.

 

Die niedrige Schwelle zur Gesundheitsversorgung vor Ort, für die auch die kleinen Häuser in der Fläche sorgen, ist ein Punkt, der Mario Günther in der aktuellen Debatte zu kurz kommt. Gerade ältere, weniger mobile Patienten könnten zögern, sich in eine dringend nötige Behandlung zu begeben, wenn die Klinik vor Ort nicht mehr da ist. „Die Schwelle würde sofort deutlich höher, wenn das kleine Haus vor Ort wegfällt.“ Der Partner könnte auch nicht mehr mit dem Rollator zum Krankenbesuch kommen. Und dann sind da noch die gelegentlichen Probleme bei der Entlassung. Zum Beispiel wenn ein Patient einige Tage nach seiner OP streng genommen gehen kann. Bei dem dann aber die Tränen fließen, weil die Versorgung zu Hause nicht geklärt ist. In solchen schwierigen Fällen drückt man hier schonmal ein Auge zu und gibt eine Nacht drauf – auch auf die Gefahr hin, dass die Kasse das nicht bezahlt. „Wir dürfen den Menschen nicht vergessen“, sagt Günther.

„Freundlichkeit ist unsere Medizin“ lautet der Klinikslogan. Doch damit allein wird man Lauterbachs Reform nicht überdauern. Der Regelversorger hat sein Portfolio aus Günthers Sicht auf einen soliden Sockel gestellt. Da sind die ausgebauten ambulanten Angebote. Da ist die Innere Medizin mit einem ausgeprägten Profil in der Gastroenterologie – manche kommen aus Dresden zur Darmspiegelung hierher. Da ist die Chirurgie mit hoher Expertise für Darm- und Schilddrüsenoperationen, die Gynäkologie mit einer steigenden Behandlungszahl von Brustkrebspatientinnen und die Orthopädie mit einem überregionalen Einzugsgebiet und langen Wartezeiten: Die Abteilung ist zertifiziertes Endoprothetik-Zentrum der Maximalversorgung. Ab Juli startet ein neuer Bereich für plastische und ästhetische Chirurgie, in einer Pilotphase wurden bereits Patienten aus Dresden und Berlin operiert. Mit dem neuen Segment wollen die Oschatzer auch Investitionen erwirtschaften. Das Problem in allen Bundesländern, die die Mittel dafür eigentlich komplett bereitstellen müssten: Das Geld reicht nicht. „Wir müssen selbst etwas verdienen, um uns erneuern zu können“, sagt Günther.

Der Chefarzt ist zuversichtlich, dass die Collm-Klinik ihr Angebot wird halten können – auch bei strengeren Vorgaben. Die werden kommen. Lauterbachs Reform sieht unter anderem Mindestmengen für die meisten Behandlungen vor. Die Vorgabe einer gewissen Fallzahl als Instrument der Qualitätssicherung sei zwar in sich stimmig, räumt Günther ein. „Natürlich ist ein Chirurg, der alle drei Monate einen Darmkrebs operiert, weniger versiert als ein Kollege, der das jede Woche macht“, sagt der Mediziner, „das ist unbestritten.“ Und bei hochkomplexen Eingriffen, etwa an der Bauchspeicheldrüse, sei es auch in Ordnung, strengere Regeln anzulegen. Beim genaueren Hinsehen werde es aber schwierig. Eine festgelegte Fallzahl sei in gewisser Hinsicht immer willkürlich. Und auch nicht immer aussagekräftig, meint Günther. „Wenn ein kleines eingespieltes Team 50 große Darmoperationen im Jahr macht und das Ergebnis gut ist – und ein größeres Team in einer größeren Klinik 100 solcher Eingriffe durchführt, bei denen das Ergebnis nicht so gut ist: Warum soll dann aufgrund einer Mindestmengen-Definition oder Fallzahl-Vorgabe das kleinere Team die Operation künftig nicht mehr anbieten?“ Einen objektiven Vergleich der medizinischen Ergebnisqualität gebe es in den meisten Fällen nach wie vor kaum.

Die vorgesehene Konzentration von Leistungen auf weniger Standorte birgt aus Günthers Sicht ebenfalls Schwierigkeiten: „Schon jetzt haben wir zu tun, wenn wir einen Patienten verlegen müssen, weil wir ihn hier nicht behandeln können – zum Beispiel wegen eines urologischen Problems. Da brauchen wir oft viel Zeit und müssen mehrere große Häuser anfragen, ob sie den Patienten übernehmen können. Falls wir künftig noch weniger Fachbereiche anbieten dürften, würde das ja noch viel öfter passieren.“ Ganz davon abgesehen, dass man bestimmte Notfälle weniger gut beherrschen könne, wenn man in der regelhaften Versorgung keine Routine mehr entwickeln könne.

Günther stört der Eindruck, der seit vielen Jahren von der Gesundheitspolitik vermittelt werde: „Wenn vier, fünf Jahre erzählt wird, dass kleine Kliniken schlechte Qualität liefern, dann fangen die Leute irgendwann an, das zu glauben.“ Günther ist deshalb besonders froh, dass der Mann, der bald sein Stellvertreter sein könnte, im Bewerbungsgespräch auch die guten Internetbewertungen als ausschlaggebenden Grund für sein Interesse an der Collm-Klinik erwähnt hat. Bei den offiziellen Patientenbefragungen waren es zuletzt 94 Prozent, die gute Noten vergeben haben. Das ist die Währung, auf die es Mario Günther ankommt.