„Wir sind noch lange nicht am Ende“

LVZ

Heinz Hilgers, scheidender Präsident des Kinderschutzbundes, fordert mehr

Einsatz im Kampf gegen Armut

Herr Hilgers, an diesem Freitag werden Sie nach 30 Jahren als Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes verabschiedet. Warum hören Sie jetzt auf?

Ich werde jetzt 75. Da wird es Zeit.

Sie sind 1993 in das Amt gekommen. Was hat Sie zum Kinderschutz motiviert?

Mich hat das Thema Gewalt gegen Kinder interessiert. Man muss ja wissen, woher wir kommen. Früher hatten Eltern ein sogenanntes Züchtigungsrecht. Bis 2000 durften Eltern ihre Kinder noch schlagen. Es gab Urteile wie das Gartenschlauch-Urteil des Bundesgerichtshofes von 1986. Da hatte ein Vater seine achtjährige Tochter mit einem Gartenschlauch so verprügelt, dass sie überall blutige Striemen hatte. Das Gericht hat geurteilt, dies sei durch das elterliche Züchtigungsrecht gedeckt. Bis in die 1970er-Jahre hinein durften auch Lehrer Kinder noch schlagen und bis 1956 der Lehrherr seinen Lehrling züchtigen. Heute hat jedes Kind ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Auch seelische Verletzungen sind untersagt.

Das zu erreichen war für Sie eine wesentliche Triebfeder?

Und der Kampf gegen Kinderarmut. Da sind wir noch lange nicht am Ende. Vor 14 Jahren haben wir das Konzept Kindergrundsicherung entwickelt. Jetzt steht eines der größten gesellschaftlichen Bündnisse in Deutschland dahinter.

Und in der Bundesregierung naht die Stunde der Entscheidung, ob die Kindergrundsicherung kommt oder nicht.

Wenn etwas kommt, dann ein Einstieg in die Kindergrundsicherung. Es darf nur nicht so wenig sein, dass man am Ende sagen muss: Das ist Etikettenschwindel. Es muss eine Zusammenfassung der wesentlichen Leistungen für Kinder geben und eine Erhöhung in Richtung des Existenzminimums. Der errechnete Satz von 754 Euro wird bei armen Kindern bei Weitem nicht erreicht. Was mich dabei besonders ärgert, ist die Haltung von Kritikern gegenüber den Eltern dieser Kinder.

Inwiefern?

Natürlich weiß ich als ehemaliger Jugendamtsleiter, dass es Kindesvernachlässigung gibt. Es gibt auch viele Fälle von Wohlstandsverwahrlosung. Aber von der Kindergrundsicherung werden drei Millionen Kinder profitieren. Die Eltern unter den Generalverdacht zu stellen, sie würden das Geld verrauchen und vertrinken, wie es einige Politiker tun, ist völlig falsch. Beim Bürgergeld bekommt man 10 Euro für Windeln, doch selbst die billigste Packung kostet knapp 40 Euro. Daran sieht man, dass die Eltern sich selbst etwas vom Mund absparen müssen. Deshalb ärgere ich mich vor allem über die Liberalen.

Weshalb?

Sie sind immer für Freiheit und einen schlanken Staat. Man soll auf der Autobahn rasen und selbst im Winter trotz Energiekrise den Außenpool beheizen dürfen – und kriegt dann auch noch eine Förderung dafür. Aber wenn es um arme Menschen geht, dann wandelt sich die Haltung sofort vom Liberalismus zum Paternalismus. Dann wollen die Liberalen jeden staatlichen Cent kontrollieren, der ausgegeben wird. Arme Menschen brauchen demnach keine Freiheit.

Noch mal zurück zur Gewalt gegen Kinder. Wie sehen Sie die aktuelle Lage?

Wir wissen heute mehr, insbesondere bei sexualisierter Gewalt. Polizei und Staatsanwaltschaften leisten da sehr viel. Sie kommen nur immer zu spät. Wir müssen in der Prävention besser werden.

Wie war Ihre Kindheit eigentlich?

Während meiner Kindheit waren alle arm. Wir waren nicht so arm, dass wir gehungert hätten. Aber die Lederhose, die du hattest, hast du sommers und winters getragen. Strümpfe waren Ersatz für eine lange Hose. Und wenn da ein Loch drin war, dann wurde das gestopft. So liefen alle rum. Heute geht es zwei Dritteln der Kinder in unserem Land sehr gut – ja, besser als zu jeder anderen Zeit unserer Geschichte und auch besser als in den meisten Ländern der Erde. Für das dritte Drittel gilt das leider nicht. Da muss dringend etwas geschehen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich würde mir wünschen, dass in unserer Gesellschaft erkannt wird, dass jedes Kind Talente hat – ob arm oder reich, behindert oder nicht, Mädchen, Junge oder divers, mit Migrationshintergrund oder ohne. Jedes Kind sollte die Chance haben, diese Talente auch zu entfalten. Eine Gesellschaft, die so ist, ist eine Gesellschaft, für die sich der Kinderschutzbund weiter einsetzen wird.