„Wirtschaftswunder“ im Nordraum Leipzig – woher sollen die Fachkräfte kommen?

LVZ, Delitzsch-Eilenburg

Die Region könnte bald zu den wichtigsten Wirtschaftsstandorten im Osten gehören. Doch wie stellt sich der Landkreis darauf ein? Antworten auf diese Frage zu finden – das ist der Job von Sven Keyselt. Seit knapp 18 Monaten ist Keyselt im Amt. In dieser Zeit dürfte dem Wirtschaftsförderer in Nordsachsen nichts so beschäftigt haben wie der Aufschwung und die mögliche weitere Entwicklung des Wirtschaftsraums nördlich von Leipzig. Denn dieser ist auf dem Weg, sich in den kommenden Jahren zu einem der wichtigsten Wirtschaftsstandorte in Ostdeutschland zu entwickeln.

Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) bescheinigte der Region zwischen Leipzig, Schkeuditz und Delitzsch schon jetzt, zu den dynamischsten Standorten in Mitteldeutschland zu gehören und prognostizierte 70 000 Jobs. Auch wenn Dulig sich damit auf bestehende und avisierte Stellen bezog, liegen davon schon jetzt viele im Landkreis Nordsachsen – Tendenz steigend.

Wirtschaftsförderer hat den kompletten Landkreis im Blick

Mytheresa, DHL, Deutsche Aircraft, Amazon in Schkeuditz und dem Flughafen-Umfeld, die Autobauer BMW und Porsche, der Dax-Konzern Beiersdorf im Norden von Leipzig und an der Grenze zu Nordsachsen, das Großforschungszentrum CTC (Center for the Transformation of Chemistry) in Delitzsch. Perspektivisch hinzu und abhängig von einem Bürgerentscheid im September käme ein mögliches über 400 Hektar großes Industriegebiet für die Halbleiterbranche, Pharma- oder Chemieunternehmen in Wiedemar an der Grenze zu Sachsen-Anhalt.

Große Projekte, doch mit einem gewissen Spannungsfeld. Wie soll das der Landkreis überhaupt bewältigen? Woher sollen die Fachkräfte kommen? Und welche Partner braucht Nordsachsen? Sven Keyselts Job ist es, Antworten auf die Frage nach dem Umgang mit dem Wirtschaftsboom zu haben – oder zu finden.

Mit einem sogenannten „Letter of Intent“, einer gemeinsamen Absichtserklärung zwischen dem Landkreis Nordsachsen, der Stadt Leipzig und den Gemeinden nördlich von Leipzig sowie dem sächsischen Wirtschaftsministerium wurde jetzt der Startschuss für diese Aufgaben und ein gutes Dutzend Infrastrukturprojekte gegeben, mit denen die Region für weitere Ansiedlungen fit gemacht werden soll.

Wirtschaftsförderer Keyselt erklärt dazu: „Grundsätzlich haben wir immer die Entwicklung des gesamten Landkreises im Blick. Der Leipziger Nordraum als gebietsübergreifende Fläche und dynamischer Wirtschaftsstandort hat zweifellos große Ausstrahlung. Der ,Letter of Intent’ priorisiert nunmehr die künftigen Top-14-Maßnahmen, mit denen gewerbliche und verkehrliche Erschließung in Einklang gebracht und eine nachhaltige Entwicklung im Stadt-Umland-Verbund erreicht werden soll.“ Von der Umsetzung werde abhängen, über welche konkreten Ansiedlungen und Herausforderungen dann gesprochen werden könne, so der 39-Jährige.

Wenn in Nordsachsen und im Nordraum Leipzig Tausende neue Arbeitsplätze entstehen, liegt es nahe, dass die Region mehr Bauland, bessere Straßen und bessere ÖPNV-Anbindungen, mehr Ärzte, mehr Einkaufsmöglichkeiten, mehr Schulen und Kitas braucht. Wie will der Landkreis diesen Bedarf decken, vor allem in einer Flächengemeinde wie Wiedemar, wo mit dem geplanten Industriegebiet sicher der größte Zuwachs zu erwarten ist? Keyselt: „Bürgermeister, Stadt- und Gemeinderäte stellen sich im Grunde ständig diesen Aufgaben.“ Gewerbliche und verkehrliche Entwicklung in Einklang zu bringen, genau das sei laut dem Wirtschaftsförderer auch das Anliegen des „Letter of Intent“. Bezogen auf das mögliche Industriegebiet Wiedemar werde die Gemeinde ein integriertes Gemeindeentwicklungskonzept aufstellen, um gemeinsam mit allen Bürgerinnen und Bürgern Antworten auf diese Fragen zu finden.

Wer nach Wiedemar schaut, muss seinen Blick nur etwas schweifen lassen, um in Sachsen-Anhalt zu landen. Bei aller wirtschaftlichen Entwicklung, die der Freistaat vorantreibt, wird es auf die Zusammenarbeit mit dem Nachbarbundesland und den Landkreisen Saalekreis und Anhalt-Bitterfeld ankommen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Hier sieht Keyselt eher Zusammenhänge: „Wir Wirtschaftsförderer stehen im regelmäßigen Austausch mit unseren Kolleginnen und Kollegen von nebenan. Gleiches trifft auf die Landräte zu. Und schließlich werden die Themen auch in den Gremien der Metropolregion Mitteldeutschland besprochen.“ Ähnlich funktioniere es mit der Stadt Leipzig.

Nordsachsen verschafft sich Gehör

Zum Knackpunkt könnte sich jedoch das Thema Arbeitskräfte entwickeln. Woher sollen die ganzen gut ausgebildeten Menschen kommen, die sich dann auf einen relativ begrenzten Raum und auf Stellen mit ähnlichen Anforderungen verteilen müssen? Schon bei der Entscheidungsfindung eines Investors könnte das ausschlaggebend sein. Der Freistaat wünscht sich Zukunftsbranchen im Bereich der Hochtechnologie wie die Halbleiter-, Automobil- oder Pharmabranche. Doch Vertreter dieser Unternehmen denken global. Im Umkreis von nicht mehr als 130 Kilometern um Wiedemar gibt es allerdings viele vergleichbare Unternehmen, die ebenfalls Arbeitskräfte und Fachpersonal mit vergleichbaren Fähigkeiten suchen. „Handlungsleitend“, sagt Keyselt in dem Zusammenhang, „ist für uns die Fachkräftestrategie 2030 des Freistaates Sachsen“. Der Landkreis setze diese mit konkreten Projekten aus der Fachkräfteallianz Nordsachsen um.

Aber was heißt das? Als Beispiele nennt Sven Keyselt die Begleitung von Lehramtsstudierenden auf Exkursion in den Landkreis oder Projekte wie den nordsächsischen Pendler- und Rückkehrertag, das Nawi-Camp oder die Ausbildungsmesse „Gut für die Region“. Zudem unterstütze der Landkreis die Projekte der Industrie- und Handelskammer und der Handwerkskammer zu Leipzig bei der Gewinnung ausländischer Fachkräfte für die Region. „Nordsachsen verfügt auch über eine starke Bildungslandschaft. Allein schon unsere vier beruflichen Schulzentren an fünf Standorten sind für die Gewinnung und Sicherung von Fachkräften elementar“, sagt Keyselt. Mit der Spezialisierung beispielsweise auf das Thema Glas in Torgau samt Investition in den GlasCampus und das GlasLAB schärfe Nordsachsen sein Profil und schaffe Alleinstellungsmerkmale für den Landkreis.

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal dürfte der Wirtschaftspodcast des Landkreises sein. Dieser trägt den Namen „Unerhört – der Nordsachsen-Podcast“ und wird aus Mitteln des Freistaates Sachsen im Rahmen des Projekts „Regionalbudget – Standortmarketing“ finanziert. „Er dient in erster Linie dazu, bei potenziellen Investoren – über die harten Standortfaktoren hinaus – das Interesse an unserer Region zu wecken“, sagt Keyselt. Acht Folgen gibt es bisher. Und erste Effekte? „Die Auswertung der Zahlen aller gängigen Podcast-Portale läuft momentan noch. Ganz konkret haben sich durch den Podcast aber auch schon Unternehmer kennengelernt, die jetzt zusammenarbeiten“, sagt der Wirtschaftsförderer.